Der Arbeitshäusler
Carl Twele

Der Arbeitshäusler

Ein Leben auf der Landstrasse im ausgehenden 19. Jahrhundert

Herausgegeben von Silke Wagener-Fimpel / Mit Illustrationen von Carl Twele / Herausgegeben von Paul Hugger

Das volkskundliche Taschenbuch [44]

220 Seiten, gebunden, 42 Abbildungen
Oktober 2006
vergriffen
978-3-85791-508-6

Schlagworte

Biografie
     

An einem Winterabend kämpft sich ein junger Mensch über eine schneebedeckte Landstrasse im deutschen Harzgebiet. Der Arbeitslose sucht Unterkunft in einer Waldschenke. Dort wird er von einem berittenen Gendarmen aufgegriffen und in einem willkürlichen Verfahren wegen angeblichen Vagabundierens zu sechs Monaten Arbeitshaus verurteilt.
Mit grossem erzählerischem Talent beschreibt Twele das Innenleben dieser Arbeitshäuser und ihrer Bewohner. Er bricht unter dramatischen Umständen aus und reist mit einer Zigeunerfamilie durch halb Europa. Zurück in Deutschland, wird er Zeuge eines Tötungsdelikts, das auch ihm zum Verhängnis wird. Der Bericht endet mit einem überraschenden Bekenntnis.
Tweles autobiografischer Bericht ist ein packendes Dokument zur Sozialgeschichte Deutschlands im ausgehenden 19. Jahrhundert, als rasante Industrialisierungsschübe nebenbei Hunderttausende arbeitslos machten und auf die Landstrasse trieben, ein buntes Volk von Randständigen.

Carl Twele

Carl Twele

Carl Twele wird 1865 in der Kleinstadt Stadtoldendorf inmitten der Weserberge als Sohn des Bäckermeisters Karl Heinrich Ludwig August Twele und seiner Ehefrau Anna Johanne Dorothee als ältestes von vier Kindern geboren. Nach der Elementarschulzeit und drei Jahren Lateinschule besucht Twele von 1880 bis 1884 das Lehrerseminar in Wolfenbüttel. Wegen einer nicht bestandenen Prüfung bricht er ab und beginnt darauf in Berlin das Studium der bildendenden Künste, welches er jedoch ebenfalls mangels Talent und Geld nach vier Semestern wieder abbricht.

Die folgenden Jahre schlägt sich Twele mit den verschiedensten Beschäftigungen durch. Als Hauslehrer oder Zeichner, als Jongleur oder Korrespondent für eine sozialdemokratische Zeitung. Nach Reisen, die er als Schiffsstewart und als holländischer Soldat unternommen hatte, kehrt er sechs Jahre später physisch und moralisch zu Grunde gerichtet zurück. Er beginnt in Deutschland herum zu vagabundieren. Im Winter 1890/91 wird der deswegen im Harzgebiet aufgegriffen und zu einem halben Jahr Korrektionshaft im Arbeitshaus von Wolfenbüttel verurteilt.

Twele flüchtet, schliesst sich einer Zigeunerfamilie an und reist mit dieser durch Ungarn, Russland, Siebenbürgen, Galizien und Böhmen. Wieder zurück in Deutschland wird er Zeuge eines Tötungsdelikt. Bei der Zeugenaussage wird er erkannt und wieder ins Arbeitshaus gebracht. Für Tweles Flucht gibt es keine schriftliche Belege. Es ist nicht eindeutig bewiesen, ob Twele tatsächlich mit der Zigeunerfamilie herumgezogen ist oder er bis zu seiner Entlassung im Jahre 1893 immer im Arbeitshaus gelebt hat.

Ebenfalls ist nicht bekannt, ob nach den Jahren des Wanderns Ruhe in Tweles Leben eingekehrt ist. Es ist wahrscheinlich, dass er nicht in Wolfenbüttel blieb.

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Paul Hugger
© Yvonne Böhler

Paul Hugger

Paul Hugger, 1930–2016, Studium der Volkskunde, Ethnologie und Romanistik, em. Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich. Zahlreiche Publikationen über Schweizer Fotografen, zur Alltagsfotografie, Herausgeber u. a. des Handbuchs der Schweizerischen Volkskultur, «Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre», Herausgeber der Reihe «Das volkskundliche Taschenbuch» und Mitherausgeber «FotoSzene Schweiz» im Limmat Verlag.

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«Das Leid der frühen Jahre»
von Paul HuggerCarl

Tweles Leben und Werk – Zwischen Dichtung und Wahrheit
von Silke Wagener-Fimpel

«Der Arbeitshäusler.
Ein Stück Lebensgeschichte von Karl Twele.
Mit Illustrationen von demselben»

Carl Tweles Leben und Werk – Zwischen Dichtung und Wahrheit

Wichtigster Schauplatz des vorliegenden Buches ist die einstige Residenzstadt Wolfenbüttel, südlich von Braunschweig in Niedersachsen gelegen. Rund dreihundert Jahre hatten hier die Welfenherzöge der braunschweigischen Hauptlinie residiert, und vom Glanz dieser Zeit zeugen noch heute viele Gebäude. Mit der Umsiedlung des Hofes nach Braunschweig im Jahre 1753 brach für die Stadt zunächst eine Zeit des Niedergangs an.

Im 19. Jahrhundert erwarb sich Wolfenbüttel einen guten Ruf als Schulstadt, wozu neben dem Gymnasium Große Schule auch ein Lehrer- und ein Predigerseminar, die Samsonschule ÿ eine bedeutende jüdische Reformschule ÿ, die Anna-Vorwerk-Mädchenschule und ein Lehrerinnenseminar im Schloss beitrugen.1 Eine Volkszählung im Jahre 1880 erfasste 12131 Menschen, zehn Jahre später war die Zahl auf 14484 Einwohner gestiegen.2

Hier verlebte Carl Twele mehrere Jahre, zunächst als Zögling des herzoglichen Lehrerseminars. Unter gänzlich anderen Umständen sollte er den Ort nach etwa sechs Jahren wiedersehen, als er eine Haftstrafe im dortigen Arbeitshaus verbüßen musste. Mit der Veröffentlichung seiner Erinnerungen an diese Zeit wollte er den Grundstein für eine Schriftstellerlaufbahn legen. Anscheinend war ihm jedoch kein Erfolg beschieden; zumindest ist ein Druck des Textes oder eine andere Publikation aus seiner Feder nicht nachweisbar.

Bei den Recherchen zur Kommentierung des Textes zeigte sich bald, dass Twele auch in amtlichen Dokumenten Spuren hinterlassen hat, die viele seiner Aussagen stützen. Im Folgenden soll versucht werden, seine Biographie anhand des Textes und der sonstigen erhaltenen Quellen nachzuzeichnen.

(...)

«Der Arbeitshäusler»

Für die geneigten Leser des Manuskriptes bemerke ich, daß ich auf beiliegenden Blättern zum erstenmal versucht habe, eine kurze Periode aus meinem allbekannten, abenteuerlichen Leben zu schildern und daß ich beabsichtige, die Erzählung – natürlich in entsprechender Umarbeitung – einem weiteren Kreise zugänglich zu machen.

Da seinerzeit der Grundgedanke der Geschichte, «Die Flucht aus dem Arbeitshause», in allen Teilen des Heimatlandes gerechtes Aufsehen erregte, so wird eine ausführliche Schilderung derselben zweifellos vielen erwünscht kommen. Im übrigen bietet der «mystische» Klang meines Namens wohl untrügliche Garantie, daß meine sämmtlichen Freunde, sowie auch die Herren Geistlichen und Lehrer des Herzogtums1 mir von vornherein ein gewisses Interesse entgegen bringen werden.

Die Illustrationen gedenke ich im Laufe der Zeit noch zu vervollständigen.

In betreff des vielleicht allzu exentrischen Stils – der Stil ist der Mensch selber –, bitte ich um gütige Nachsicht; denn:

«Vergiftet sind meine Worte,

Wie könnt' es anders sein?»

Warum ich die Erzählung nicht anonym geschrieben habe? ÿ Weil ich nach reiflicher Erwägung zu der Überzeugung gekommen, daß diese Art von Anonymität entweder falsche Bescheidenheit oder Feigheit ist. Wer den Mut hat, die Gaben seiner Muse oder die Erträge seiner Geistesarbeit der weitesten Öffentlichkeit vorzulegen, der soll auch den Mut haben, seinen Namen zu nennen. Wozu er aber diesen nicht hergeben mag, das mag denn auch ungelesen bleiben.

Sollten edeldenkende Menschen – und dazu zähle ich namentlich die geneigten Leser des Manuskriptes – ein besonderes Interesse nicht nur der Erzählung, sondern auch dem «fahrigen» Erzähler selbst abgewinnen, so erlaube ich mir, diesen die Bitte ans Herz zu legen, mich mit ihrer Gunst und Hilfe unterstützen zu wollen, da die geplante Fortsetzung meiner schriftstellerischen Arbeiten schlechterdings dadurch bedingt ist. Sobald mein Erstlingswerk den nötigen pekuniären Erfolg aufweist, wird es natürlich mein besonderes Bestreben sein, allen etwa eingegangenen Verbindlichkeiten wieder gerecht zu werden.

Hochachtungsvoll ergeben

Carl Twele

*

Anfangs wollt' ich fast verzagen

Und ich glaubt', ich trüg' es nie;

Und ich hab es doch getragen!

Aber fragt mich nur nicht – wie?2

Wenn ich das Buch meines Lebens durchblättere, habe ich helle Not, all die Namen zu beschwichtigen, die sich förmlich aufstellen wider mich, Gestalt und Sprache annehmen, sich gegenseitig überschreien, stoßen, drängen, um in die erste Reihe des Gedächtnisses zu kommen. Es kommt mir vor, als läge ihnen jetzt mehr an mir als einst, wo sie, nicht aus toten Buchstaben, sondern aus Fleisch und Blut bestehend, mir nahe traten. Heute nun, wo ich versöhnlicher und milder denke wie einstmals, fühle ich das Bedürfnis, einige dieser Erinnerungen wieder zum Leben zu erwecken, und da mir gerade ein recht dunkles Blatt in die Hände fällt, so möge denn dieses den Anfang bilden:

Der Arbeitshäusler! Ein vielversprechendes Wort, welches mit meinem Leben zu eng verknüpft ist, als daß ich es jemals vergessen könnte!

Ehrbare Leute haben natürlich die Berechtigung, mich dieser Vergangenheit wegen von oben herab anzusehen, und noch geringschätziger werden sie die Achseln zucken, wenn sie sich wirklich die Mühe geben, diese Blätter zu lesen. Indessen ein einmal gegebenes Wort legt mir Verpflichtungen auf, und diese will ich endlich einmal von mir abzuwälzen versuchen ...

Ich war nichts. Um noch deutlicher zu sein – in der Karriere, für die ich von Jugend auf bestimmt und erzogen war, hatte ich Schiffbruch erlitten und die andere, für die ich mich später selbst entschieden, kaum begonnen, wieder aufgegeben, weil ich eingesehen hatte, daß es mir an wirklichem Talent und – Geld dazu fehlte; ich besuchte drei Jahre eine lateinische Schule, absolvierte ein Lehrerseminar und war später vier Semester Kunstakademiker. An sogenannter Bildung fehlte es mir folglich nicht, dennoch wurde ich vom Schicksal nun in einer Weise umhergewirbelt, die dem nüchternen Verstandesmenschen unglaublich erscheinen mag; stufenweise gings in die Tiefe: Hauslehrer, Portraitmaler, Schreiber, Zeichner, Zeitungskorrespondent, Recomandeur3, Schiffsteward, Jongleur und Equilibrist4, Klavierspieler, Steinträger, Zi[e]geleiarbeiter und endlich holländischer Soldat in Indien5 – alles dieses in einem Zeitraum von zehn Jahren. Nach Europa zurückgekehrt, krank und gebrochen, physisch und moralisch zu Grunde gerichtet, betrat ich nun in Ermangelung jeglicher besseren Aussichten die unterste Stufe der Menschheit, indem ich dem mir leider angeborenen Wandertrieb zu viel freien Willen ließ und per pedes apostolorum6, vagierend und nomadisierend, ganz Deutschland bereiste.

____________________
1 Gemeint ist das Herzogtum Braunschweig, dessen Regierungssitz bis 1753 Wolfenbüttel war. 1946 ging der größte Teil im Land Niedersachsen auf.

2 Heinrich Heine, Buch der Lieder: Junge Leiden/Lieder 8, 1827.

3 Ein Rekommandeur stand auf der Rampe der Schaubuden und lockte wortgewaltig das schaulustige Volk mit markanten Sprüchen an. Außerdem half er beim Auf- und Abbauen der Schaubude. (Frdl. Auskunft von Hermann Sagemüller, Jongleurarchiv Nördlingen-Baldingen.)

4 Gleichgewichtskünstler, beispielsweise als Seiltänzer oder Akrobat.

5 Twele meint hier das Kolonialgebiet Niederländisch-Indien im Bereich des heutigen Indonesien. An späterer Stelle erwähnt er einen Aufenthalt auf Sumatra.

6 Lat. zu Fuß (wörtlich: auf den Füßen der Apostel).

Wolfenbütteler Nachrichten, 4. Januar 2007
Braunschweiger Zeitung, 9. Januar 2007
Norddeutscher Rundfunk, 11. März 2007
Niedersächsisches Jahrbuch, 7. September 2007

«Ein seltenes, packendes sozialgeschichtliches Dokument.» NDR

«Da wird der literarisch eher biedere, mit gelehrten Zitaten aufgemotzte Bericht beklemmend: Wie er mit bräsiger Borniertheit unschuldig verurteilt und in heillose Verzweiflung geschleudert wird, das hat fast einen Zug ins Kafkaeske. ‹Der Stoß eines ungeheuren, niemals geahnten Zufalls erschüttert unser Sein, die Harmonie ist zerrissen, aus der Bahn geschleudert fliegen wir ins Unendliche, ein Irrlicht am Himmel des Lebens.›
Zum Rebell wird der Vagabund aber trotz aller ohnmächtigen Wut nicht. Dazu ist die Scham zu stark. Doch er resigniert auch nicht. Denn durch sein Schreiben und Streben, durch sein Stromern und Sehnen schwingt das Ideal des Bildungsromans: der Mensch, der geläutert aus den Stürmen eines zunächst orientierungslosen Lebens hervorgeht.» Wolfenbütteler Nachrichten

«Wagener-Fimpel hat die in den Lebensschilderungen von Twele gemachten Äußerungen über Wolfenbüttel anhand von Dokumenten überprüft. Im Buch hat sie diese Erkenntnisse in einem Zusatzaufsatz zusammengetragen.
Dabei hat sie herausgefunden, dass Twele einer der ‹ungewöhnlichsten Vagabunden› war, die das Wolfenbütteler Arbeitshaus in seinen Mauern beherbergt hat. Eigentlich war Twele ziemlich gebildet, was ihn jedoch nicht vor einem Leben auf der Landstraße bewahrte.» Braunschweiger Zeitung

«Ein spannendes Buch, dessen geschichtliche Realität zwar weit zurückliegt, dessen Bedeutung über die Zeit aber erhalten bleiben wird.» Niedersächsisches Jahrbuch

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