Werke und Briefe
Walter Gross

Werke und Briefe

Botschaften. Gesammelte Werke (Band 1), Antworten. Ausgewählte Briefe von und an Walter Gross (Band 2)

Herausgegeben von Peter Hamm / Mitherausgeber Erwin Künzli

800 Seiten, 65 Abb., Leinen
1., Aufl., November 2005
SFr. 78.–, 89.– €
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978-3-85791-488-1

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Schlagworte

Literatur Biografie Lyrik
     

Walter Gross (1924–1999), Sohn eines Fabrikarbeiters und gelernter Buchbinder, lebte als freier Schriftsteller in Winterthur. Publizierte zwei Gedichtbände, «Botschaften noch im Staub», 1957, und «Antworten», 1964. Daneben veröffentlichte er gelegentlich Prosa und schrieb Rezensionen und Aufsätze für Zeitungen und Radio. 1999 starb Gross in Winterthur, fast gänzlich vergessen. Sein zweiter und letzter Gedichtband war 1964 im Piper Verlag erschienen, an den ihn Ingeborg Bachmann vermittelt hatte. Danach ist er für mehr als dreissig Jahre verstummt – durch die Wälder streifend, Robert Walser ähnlich.
Walter Gross war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Schweizer Lyriker, seine Gedichte in allen wichtigen deutschsprachigen Anthologien vertreten, auch weit über sein Verstummen hinaus. Und trotz der Distanz eines halben Jahrhunderts sind sie von erstaunlicher Gegenwart.
Hinterlassen hat er auch einen faszinierenden Briefwechsel: mit Johannes Bobrowski, Werner Weber, C.J. Burckhardt, Hans Boesch, Jörg Steiner, Cyrus Atabay, Kurt Marti, Rainer Brambach u.v.a. Die Briefe sind von literarischer Qualität, aus ihnen spricht eine grosse Begabung zur Freundschaft, aber sie sind auch ein erschütterndes Dokument der Krisen von Walter Gross, die schliesslich ins Verstummen mündeten.
«Ich warte ungeduldig auf Deinen neuen Band.» Johannes Bobrowski - «Sie haben da ein bedeutendes Werk geschaffen – ich glaube, sie können nicht anders.» Carl Jakob Burckhardt - «Weit über dem, was man dieser Tage im allgemeinen zu lesen bekommt.» Stefan Hermlin - «Ihre Gedichte sind sehr schön, intensiv und kräftig.» Rainer Brambach

Walter Gross
© Limmat Verlag

Walter Gross

Walter Gross (1924–1999), Sohn eines Fabrikarbeiters und gelernter Buchbinder, stirbt 1999 in Winterthur, ziemlich vergessen. Sein zweiter und letzter Gedichtband war 1964 im Piper Verlag erschienen, an den ihn Ingeborg Bachmann vermittelt hatte. Danach ist er für mehr als dreissig Jahre verstummt – durch die Wälder streifend, Robert Walser ähnlich.

Der Sohn eines Fabrikarbeiters und gelernte Buchbinder war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Schweizer Lyriker, seine Gedichte in allen wichtigen Anthologien vertreten. Und trotz der Distanz eines halben Jahrhunderts sind sie von erstaunlicher Gegenwart.

Hinterlassen hat er auch einen faszinierenden Briefwechsel: mit Johannes Bobrowski, Werner Weber, C.J. Burckhardt, Hans Boesch, Jörg Steiner, Kurt Marti, Rainer Brambach Cyrus Atabay u.v.a. Die Briefe sind von literarischer Qualität, aus ihnen spricht eine grosse Begabung zur Freundschaft, aber sie sind auch ein erschütterndes Dokument der Krisen von Walter Gross, die schliesslich ins Verstummen mündeten.

«Winterthurer, gelernter Buchbinder, Autodidakt; bestimmender Exponent neuen helvetischen Poesieempfindens in den fünfziger Jahren; erste Auftritte in Hiltys 1950 lancierter Zweimonatsschrift ‹hortulus›; Freundschaft mit Peter Huchel und Johannes Bobrowski, denen er seinen Hang zu archaischer Bildlichkeit dankt; zwei schmale Versammlungen, die ihn spontan zur Instanz werden liessen, zu einer Art Orientierungshilfe in der sich mählich zurechtwühlenden deutschen Nachkriegslyrik. Wo ist er geblieben, der Autor der bis zum heutigen Tag so wesentlichen (vergriffenen) Bändchen? Wo ist Walter Gross?

Seit zwanzig Jahren nicht das kargste poetische Lebenszeichen – ein in unserer Literaturbetriebsamkeit höchst ungewöhnlicher Vorfall! Schöpferisches Pausieren? Athemholen über zwei Jahrzehnte hinweg? Kapitulation der harsche Verweigerung, die sich schon immer trotzig in Aussicht stellte? (...)

Vermisst und gesucht: Ein Poet, dessen Programm sich noch und noch erfüllt und jahrzehntelang als wetterfest erweist; ein Abhandengekommener, dessen ehmals getarnte Manifeste zusehends spruchreifer werden und nach Neudruck ausschauen. Wanted? Ein notwendiger Dichter.» Dieter Fringeli, 1984

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Peter Hamm
© Sophie Tanner

Peter Hamm

Peter Hamm (1937–2019)  wurde in München geboren. Lyriker, Essayist, Herausgeber, Kritiker, war lange Kulturredaktor beim Bayerischen Rundfunk und zwanzig Jahre Kritiker im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. Er veröffentlichte Gedicht- und Essaybände sowie Anthologien. Viele Dokumentarfilme, u. a. über Robert Walser, Fernando Pessoa, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Alfred Brendel und Peter Handke.

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Erwin Künzli

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Inhalt

Gedichte

Botschaften noch im Staub

Erstes Buch

Akragas 11
Tyndaris 12
Trapani 13
Die Stadt mit den vier erzenen Pferden 14
Ribera 15

Zweites Buch

Boschura i 17
Boschura ii 18
Boschura iii 20

Drittes Buch

Scheria 22
Sekunde 23
Nachher 24
Linos 25

Viertes Buch

Das Stumme 27

Fünftes Buch

Via Appia 30
Aus Sambuca 32
Ihr meine Lieder, die ihr mich kennt 34
Er war wohl aus anderer Zeit 35
Zwischen den Scharmützeln mit der Schwermut 36

Sechstes Buch

Zu einem Bildnis 38
Bedachte seinen Kummer 39
Getreide im Haar 40
Kaleo 41
An jenem Nachmittag 42
Er war gejagt wie Aktaion 43
Lange hat sie gezögert 44
Boschena 45

Siebentes Buch

Botschaften 47
Warnungen 48
Umzingelung 49
An der böhmischen Grenze 50
Lass keine Verzweiflung aufkommen 51

Achtes Buch

Die Taube 53
 

Antworten

Bei Müllheim 62
Mannenbach 63
Wald über Kemleten 64
Riedelsbach am Dreisessel 65
Gedenkblatt für Carola 66
Rat für den Abend 67
Epistel 68
Die Mutter 69
Im August 70
Nach Lust und Verantwortung 71
Zeiten 72
Am Flussufer 73
Nach aller Trauer 74
Malamocco 75
Bertolt brecht 77
Joseph Roth 78
An Cesare Pavese 79
San Stefano Belbo 80
Vor der Abfahrt 82
Oktobertag 83
Dezembermorgen 84
Einem Kind 85
Nathania 86
Juli 87
Morgen im November 88
Nach Jahren 89
Der Fisch 90
Berliner Zoo 91
Junger Baum 92
Berlin 93
Für Johannes Bobrowski 94
Aus den Wäldern 95
Gespräch mit einem Maler 96
Absage 97
Adolf Dietrich in Berlingen 98
 
Verstreute Gedichte

Vanna 100
«War ein laut im Sparr …» 101
«Aufrauscht der Wind …» 102
Friedhof bei San Michele a Ripaldi 103
Beuge dich tiefer ins Laub des wilden Weins … 105
Giardino degli amanti 106
Die Fremde 108
«Golden verwesen die Wälder …» 109
Venedig 110
«Hoch über der schwarzen Schlucht …» 111
Mittag in der Toskana 112
Totenwunsch 113
O jene die gehn tief innen 114
Fragment des Georgios Mellissos 115
Mahnung zum Verschweigen 116
Novembermitte 117

Prosa

Der verlorene Sohn 120
Begegnung mit dem Knaben Elis 126
Die Lerche 129
Land aus Staub und Stein 133
Lourdes 141
Die Schuld 146
Das Gras wachsen hören 151
 
 
Sizilien

Sizilien, Insel im unverletzten Licht. Ein Reisebericht 158
Insel im unverletzten Licht. Fotografien 181
 
 
Selbstauskunft

Warum ich schreibe 206
«Ich wurde am 12. Oktober 1924 …» 207
Rede nicht als Ausrede 208
Autoren stellen sich vor 210
Über mich selbst 216

Über Musik und Kunst

Begegnung mit der Musik 220
Vernissage Heinrich Bruppacher 223
Zur Ausstellung Henri Schmid im Kursaal Heiden 226

Kritik

Eine Geburtstagsgabe für Regina Ullmann 230
Ein lyrisches Vermächtnis. Alexander Xaver Gwerders Gedichtband «Dämmerklee» 232
Über Rudolf Borchardt 236
Federico García Lorca. Dalmatika der spanischen Dichtung 240
Der junge Arzt Carossa 250
Das namenlose Angesicht. Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts 253
Erkanntes Leben, jäher Sinn. Zu Gottfried Benns siebzigstem Geburtstag 256
Zum Gesamtwerk Felix Hartlaubs 261
Ernst Jünger 265
Gedenkblatt für Joseph Roth 270
Tod am Nachmittag. Über Ernest Hemingways gleichnamiges Buch 274
Cesare Paveses «Gespräche mit Leukò» 280
Das Schweigen als Zeuge. Zu Peter Huchel und seinen Gedichten 282
Ein polnischer Europäer: Czeslaw Milosz 307
Zeit ohne Angst. Zu den Gedichten von Johannes Bobrowski 312
Jjohannes Bobrowski. Vortrag an der Stiftung Oskar Reinhart 321

Über Walter Gross

Ein Abhandengekommener von Peter Hamm 332
Erinnerungen an Walter Gross von Franz Zeier 374
 
Editorische Notiz 391
Bibliografie 392
Text- und Bildnachweise 394

Briefe an Rainer Brambach, Johannes Bobrowski, Kurt Marti

BRIEF AN UND VON RAINER BRAMBACH

Winterthur, Lärchenstr. 31, den 15. Oktober 1957

Lieber Brambach,

haben Sie Dank für «Die Gesangsstunde», Sie haben mich bis zur letzten Zeile glücklich gemacht. [...]
Ich versuche den Schock des Herauskommens meines ersten Gedichtbandes zu überwinden. Aber schweigen wir davon. Tue einiges, was sich den Worten entzieht, anderes fürs Geldsäcklein (Radiodinge vor allem). Das Beste habe ich vor wenigen Tagen fertiggebracht: meinen dreiunddreissigsten Geburtstag.
Ich wünsche Ihnen das Herzlichste!
Walter Gross

Basel, den 17. Okt. 57

Lieber Walter Gross,
Dank für Ihre guten Worte. Ich freue mich haushoch, dass wir zusammen im Jahresring sind.
Ihre beiden Gedichte drin sind sehr schön, intensiv und kräftig. (Wie alles, was von Ihnen erscheint!) Wieso also Schock über Ihren Gedichtband? Lass keine Verzweiflung aufkommen.1 Wenigstens nicht allzu sehr. Wie es auch mir manchmal ergeht.
Ich grüsse Sie brüderlich. Ihr
Rainer Brambach
_______________
1 Anspielung auf das Gedicht «Lass keine Verzweiflung aufkommen» von W.G.

BRIEF AN JOHANNES BOBROWSKI

7. Juli 1964

Lieber Johannes,
schön nun, unsere beiden Gedichte nebeneinander im «Spektrum» zu sehen, ein kleines Zeichen der herzlichen und freundschaftlichen Verbundenheit - und mehr.

Ich war in München auf dem Verlag, las Korrekturen, und jetzt ist die Schlusskorrektur weg. Es steht als Motto vorne im Band ein Satz von Camus: Wir sind eine kleine Schar, die nichts schweigend hinnehmen will.
Hoffentlich legt man mir dies nicht als Anmassung aus, der Satz steht im Konnex zu einer Zahl von Gedichten und kann nur so recht verstanden werden. Er ist ein Bekenntnis zum Humanum, an dem alle teilhaben, die guten Willens sind.
Ich sah auch Nowakowski, er hofft, Dich in Stockholm an der Gruppe zu sehen. Gerne würde ich kommen, nicht wegen der Gruppe, vielleicht ist sie nun doch schon, wie die Bachmann verschlüsselt sagt, säkularisiert, aber der Freunde willen.
Ist Tochter oder Sohn eingetroffen? Bitte, lass mich nicht ohne eine Nachricht, dass auch für Deine Frau alles gut überstanden ist.
Manchmal gehe ich in Gedanken den Weg zu Deinem Haus, es überkommt mich sehr stark die Erinnerung, der Sandweg, die Bäume, der Schulhausplatz, Dein Haus und die Stunden darin.
Darf ich noch gestehen: Es findet sich in meinem Band ein Gedicht mit dem Titel «An Johannes Bobrowski». Auch das mag vielen als eine Anmassung erscheinen, mir nicht - und ich hoffe auch Dir nicht.
Das Herzlichste für Dich und die Deinen,
immer Dein Walter

 

BRIEF AN KURT MARTI

Winterthur, Lärchenstr. 31, den 31. Oktober 1967

Lieber Kurt Marti,
ich hatte eine turbulente Zeit: zuerst Besuch aus der cssr. Ja, es hat mit meinen Freunden wirklich grossartig geklappt, nur musste ich auch vieles arrangieren, mit ihnen umherreisen und bei Gesprächen und Diskussionen dabei sein. Mitten hinein dann noch ein Besuch aus Paris.
Ich stand ein wenig kopf.
Für Ammann hatte ich mich bei der Anna Seghers eingesetzt. Er konnte dann wirklich zu meinem Freund Kunze nach Greiz in Thüringen fahren, kam aber dort, leider, besoffen an und schlief in der Badewanne eines dortigen Hotels ein. Kunze hat er nicht gesehen. Das ist eine derart verrückte Geschichte, dass ich sie kaum glauben kann.
Kunze schrieb einen verzweifelten Brief über die Eidgenossen und hat nun vor, in Greiz sämtliche Badewannen abzumontieren. Aber die Eidgenossen werden sich anderswo zum Schlafe niederlegen, sich trotzdem besaufen und Kunze nicht sehen.
Mit einem anderen Freund in der cssrgeht eine derart merkwürdige Geschichte vor, dass sie brieflich kaum zu erzählen ist. Ich habe Grass einen Brief geschrieben und ihn über die Tatsachen aufgeklärt, d.h., weshalb es zum Ausschluss von Schriftstellern aus der Partei gekommen ist. Nun, inzwischen hat Grass zum Rückzug geblasen, aber das Unheil ist da, in welchem Ausmass ist noch nicht abzuschätzen. Leider geht der kalte Krieg in den Gazetten weiter, man schreibt von Revolte der cssr-Schriftsteller, treibt so den kalten Krieg voran, stiftet Unheil, wo schon genug angerichtet wurde.
In der ganzen Zeit habe ich Ihren Band «Rosa Loui»1 mit mir herumgetragen. Ihr Band und der von Jan Skacel, «Fährgeld für Charon» (Merlin-Hamburg)2, sind die wesentlichen Gedichtbände für mich in diesem Herbst.
Sie haben nun tatsächlich die Umgangssprache zur Dichtung gemacht, und wie! Das ist eine Tat, die kaum jemand mehr erwartet hat. Denn die Mundartdichtung war seit Jahren Refugium von Heimattümelei, Blu-Bo-Dichtung, war letzte Festung, vermorscht und verrostet, von geistiger Landesverteidigung.
Ich sehe aber in Ihren Gedichten auch den Theologen, sehe sie in diesen Gedichten, in denen Endlichkeit, Fragwürdigkeit unseres Daseins grossgeschrieben ist. Eine Trauer kommt da herauf, nicht ohne Hoffnung zuweilen, verwandt und anders artikuliert bei Skacel, die mich in ihrem Ernst und ihrer Gewalt ergreift. Haben Sie dank, ich finde Sie in Ihren Gedichten, wie ich Sie gesucht und immer geachtet habe.
Ich bin mit freundschaftlichen Grüssen,
Ihr Walter Gross
_________________
1 Kurt Marti: rosa loui. vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach. Luchterhand Verlag, Neuwied/Berlin 1967
2 Jan Skacel: Fährgeld für Charon. Merlin Verlag, Hamburg 1967

Gedichte

Am Flussufer

Umschlungen hielt sie ihn,
die Hand an ihrem Knie,
die andere im Haar
beugte er sich über sie,
wir erschraken zu dritt.
Was war, die Zeit,
die Worte um Mund und Ohr,
die vergangene,
ich erkannte sie wieder,
vor Jahren,
die Zeit.

 

Die Mutter

In der Küche an der Wand
am Haken die blaukarierte Schürze.
Gezählt und gefaltet die frischen,
duftenden Tücher auf dem Tisch,
Arbeit, jeden Tag wiederkehrende,
wegzuhalten den Kummer.
Unabwehrbar wird die Regung
im Innern vor den ungelenk geschriebenen
Zetteln auf den Einmachgläsern
voller Fehler.

 

Im August

Zwei Wochen schon
steckt zwischen den Zeitungen
der schwarzumrandete Umschlag
im Briefkasten,
noch lebt der Freund
für die nach Riccione Verreisten.
Die Katze schläft zwischen
den Geranien,
Leute klingeln an Türen,
die irrtümlich und verschlossen sind,
stehen auf der Strasse,
reden in unverständlicher Sprache,
beladen mit Blumen und Koffern.
Nur die Italiener sind geblieben,
die abends am Strassenrande Boccia spielen,
während ich im Biergarten sitze
und eine Arbeit vergesse,
die zu tun sein wird.

Gedenkblatt für Joseph Roth

Ein in Rom lebender Freund des verstorbenen österreichischen Dichters Joseph Roth lud mich auf abends zehn Uhr in ein Café an der Via Veneto ein. Die ersten Januartage waren nach meinen Begriffen schon märzlich warm, und der Gang zum Rendez-vous verleitete zu kleinen Umwegen. Ich war lässig genug, meinen Launen nachzugeben, und fand mich so mit einer Verspätung in dem weltstädtisch noblen Lokale ein, dessen vornehmliche Zierde eine riesige Bar war. Die kleine Gesellschaft sass bereits vollzählig um einen der kleinen Tische, auf mit rotem Kunstleder überzogenen Hockern, bei Campari und Kaffee: seine immer noch hübsche, jedenfalls charmante kleine Frau, dann eine junge, begabte Lyrikerin aus Klagenfurt und ein Kunsthändler, dessen besonderes Interesse ostasiatische Dinge zu sein schienen. Eigentlich wäre ich lieber in eine der vielen kleinen Trattorien gegangen, in denen man dem römischen Alltag näher ist als in den Bars und Cafés am Lago Trifone und an der Via Veneto. Roths Freund aber schien durch die Jahre seiner Emigration eine besondere Beziehung zu den unpersönlichen Treffpunkten aller grossen Städte zu haben. Die grossen Namen Paris, Cannes, Sanary-sur-Mer, New York, Los Angeles, Stockholm hatten für ihn nicht den Reiz, den ich heute noch empfinden darf, sie bedeuteten lediglich Stationen auf einem verzweifelten Weg nach Heimat, sie waren tauschbare Orte der Unsicherheit, der materiellen Not und des oft unbezähmbaren Heimwehs. Das Gespräch wurde von Roths Freund auf Loerke gebracht, den er verschiedentlich getroffen hatte, kam dann auf die kürzlich veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen dieses Mannes, die ein Dokument erschütternder Vereinsamung sind. Dann begann er von seiner eigenen Emigration zu sprechen, voll Bitterkeit, auch gegenüber mir als Schweizer, aber der Name Joseph Roth fiel nicht. Der Name schien das heimliche Stichwort zu sein, das nicht ausgesprochene. Und gewiss, er war eines der ersten Beispiele, die man anzuführen gehabt hätte. Roth verliess mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten Deutschland für immer. Er verliess es, das Land seiner Sprache, das Land seines ersten literarischen Erfolgs: 1932 hatte er seinen «Radetzkymarsch» veröffentlicht. Das Wort «Radetzkymarsch» fiel erst viel später, spät in der Nacht, als ich mit der jungen Österreicherin in einer Trattoria unten beim Pantheon landete. Es war eines der Lokale, die bis gegen den Morgen offenhalten, meistens beinahe leer sind und vor allem von Paaren besucht werden, denen es, seit dem frühen Abend zusammen, immer schwerer fällt, sich zu trennen. Von Paaren auch, die sich in einem der vielen kleinen Zimmer der grossen Stadt umarmt haben und nun noch eine Kleinigkeit essen wollen. Der Garçon macht unter diesen Umständen kein Hehl, die Eintreffenden unter diesen Zeichen zu begrüssen, und es mangelt nicht an wissenden Blicken, während er die Speisekarten hinlegt und nach dem Weine fragt. Wir wollten beide dieses bessere Wissen nicht entwerten, bedachten auch unter diesen Umständen die Unschicklichkeit, ohne Essen dazusitzen. So bestellte sich meine Begleiterin eine Omelette, und wir baten zusammen um eine Flasche Frascati. Nachdem wir uns so glücklich in unsere uns zugedachten Rollen gefunden hatten, fiel nach einer Weile beiläufigen Gesprächs Roths Name und «Radetzkymarsch». Ein Schweigen folgte. Wie schwer ist es zu einem so wunderbaren Buch ein Wort zu sagen. Irgendwoher kam Tanzmusik, der Garçon stand an der Tür, die zur Küche führte, und beobachtete uns unauffällig. Ich aber musste an die Stelle im Roman denken, wo der Mann der verstorbenen Frau Slama dem jungen Baron Trotta, der zu ihm gekommen ist, sein Beileid zu sagen, die an seine Frau gerichteten Briefe zurückgibt: «Es ist einen Augenblick still, nur der Regen prasselt auf das arme, blassblaue Päckchen, färbt es ganz dunkel, es kann nicht länger warten, das Päckchen. Carl Joseph nimmt es, versenkt es in der Manteltasche, wird rot, denkt einen Moment daran, den Handschuh von der Rechten abzustreifen, besinnt sich, streckt die Hand im Leder dem Wachtmeister hin, sagt: ‹Herzlichen Dank!› und geht schnell.» Wir dachten beide an Joseph Roth, dessen Residenz die kleine, runde Platte aus Marmor von vielen Tischen in vielen Caféhäusern gewesen war. Diese kleine runde Platte, auf der sich die Zahlteller zu immer grösserer Höhe erhoben, je mehr die Zeit fortschritt, desto später es wurde. Die kleine, runde Platte aus Marmor, wo er mit seinen Freunden, den Vertriebenen vieler Länder, gesessen hatte, auf kleinen Zetteln seine Romane, seine Erzählungen, seine Essays und seine bissigen, sarkastischen und doch mit Humor erfüllten Polemiken schrieb.

Es ist so schade, dass wir nur eine geringe Zahl seiner Briefe besitzen. Wo sind sie alle hingekommen? Er war doch ein so grosser Briefschreiber, und was für Briefe konnte er schreiben, er mit seinem grossen, traurigen Herzen! Freilich musste er in ihnen oft um Geld bitten. Er musste um Vorschuss schreiben und nachher schreiben, wie tief er es bedaure, den Vorschuss schon verbraucht zu haben, jetzt, wo er ihn mehr als nötig hätte. Aus diesem Zirkel ist er nicht mehr herausgekommen: «Heute ist die Abrechnung über mein siebzehntes Buch gekommen. Im ganzen sind 3450 Stück verkauft worden. Der Vorschuss ist noch lange nicht ‹abgedeckt›. Unter der Abrechnung steht: ‹Irrtum vorbehalten› und ‹Einspruch innerhalb der nächsten zwei Wochen möglich›. - Wogegen sollte ich Einspruch erheben? Höchstens gegen die Bemerkung ‹Irrtum vorbehalten›. Wenn es tatsächlich einen Irrtum geben sollte, so gewiss keinen zu meinen Gunsten. Mein Verleger ist ein Ehrenmann. Im Begleitbrief schreibt er wörtlich: ‹Es ist furchtbar, Abrechnungen zu sehen. Die Vorschüsse kommen nicht herein.› Ich habe schon sieben Verlage gehabt. Dies ist der achte. Ich kenne also bereits acht Ehrenmänner. Es ist viel - für ein so kurzes Schriftstellerleben. Ich bin nicht der einzige Autor. Die Vorschüsse meiner Kollegen kommen auch nicht herein. Es ist ein merkwürdiges, abenteuerliches Geschäft, das Buchverlegen. Man lebt von Verlusten. Das muss schwer sein, wenn ich bedenke, dass ich nicht einmal von Vorschüssen leben kann.»

(...)

[1957]

Editorische Notiz

«Briefe sind nie von dem, der sie schreibt, sondern von dem, an den sie gerichtet sind», erklärte einmal Alexander von Villers, der Autor der «Briefe eines Unbekannten». Und Margarete Gideon, die von Villers Werk neu herausgegeben hat, verwies auf «die auffallende Differenziertheit seines Briefstils je nach Empfänger». Auch Walter Gross, der grossartige Briefe schreiben konnte, passte sich fast chamäleonhaft dem Ton seines jeweiligen Briefpartners an. Während er sich von einem Carl Jacob Burckhardt in schönster Rober-Walser-Manier verabschieden konnte - «Lassen Sie mich dem Wunsche nachgeben, Sie zu grüssen» -, vermochte er gegenüber anderen Autoren auch derbe bis frivole Töne anzuschlagen. Wieweit es sich dabei um eine Form von Ich-Schwäche oder ein bewusstes Maskenspiel handelt, kann dahingestellt bleiben.

Leider muss ein vermutlich besonders interessanter Briefwechsel wie der mit Ingeborg Bachmann ebenso als verschollen gelten wie etwa der mit Rudolf Kassner oder Hans Carossa (von Begegnungen mit ihnen erfahren wir nur aus den Briefen an andere). Im Nachlass von Walter Gross fand sich ein Konvolut von Briefen, die er erhalten hatte. Von vielen Briefpartnern scheint fast alles erhalten zu sein, von anderen fand sich nur wenig. Von Werner Weber und Walter Robert Corti (die beide Ihre Briefe von Hand schrieben und selber keine Durchschläge haben), Hans Boesch, Kurt Marti, Peter Hamm, Silvio Rizzi und anderen fehlen alle Briefe.

Auch wo wir von Briefen wussten, haben wir sie nicht immer erhalten, da nicht alle Empfänger ihr umfangreiches Archiv ergründen mochten. Gewisse Briefwechsel wie der mit Walter Robert Corti oder Silvio Rizzi sind eher aus Zufall zum Vorschein gekommen, so dass man sicher davon ausgehen kann, dass hier nur eine Auswahl der Briefe von Walter Gross vorliegt.

Rudolf Kassner hielt Walter Gross einmal zu Recht die Unleserlichkeit seiner Schrift vor; diese hat auch dazu geführt, dass trotz intensiver Beschäftigung mit der Schrift etliche Passagen in seinen handgeschriebenen Briefen - er schrieb gottlob die meisten mit der Maschine - unentziffert bleiben mussten. Die oft eigenwillige, um nicht zu sagen fehlerhafte Zeichensetzung sowie die Orthografie von Walter Gross wurden stillschweigend korrigiert, Kürzungen, die durchweg Nebensächlichkeiten betreffen, sind gekennzeichnet. Weniger interessante Briefe haben wir weggelassen, wobei «interessant» relativ grosszügig interpretiert wurde, da es keine Biografie von Walter Gross gibt.

Der Anmerkungsapparat ist bewusst bescheiden gehalten in der Meinung, die Lektüre nicht durch die Erläuterungen verstellen zu wollen. Aus diesem Grund findet sich auch die Liste bzw. das Register mit Erklärungen zu den in den Briefen erwähnten Personen am Ende, die so nur bei Bedarf beachtet werden können. Um das Register nicht ungebührlich anschwellen zu lassen, haben wir auf Namen verzichtet, die lediglich in den zahlreichen Lektürehinweisen vorkommen. Dass einige Personen aufgrund der vagen Hinweise nicht ermittelt werden konnten, bedauern wir.

Angeordnet sind die Briefe zuerst nach den Briefpartnern von Walter Gross, danach chronologisch nach dem jeweils ersten vorhandenen Brief. Für diese Ordnung sprach vor allem die hohe Bedeutung, die Walter Gross der Freundschaft zumass, so dass jede seiner Beziehungen, soweit es eben möglich war, als solche dokumentiert ist.
Neue Zürcher Zeitung, 8. Dezember 2005
Stadtblatt Winterthur, 8. Dezember 2005
Elgger Zeitung, 17. Dezember 2005
NZZ am Sonntag, 25. Dezember 2005
Der Bund, 20. Januar 2005
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Januar 2005
Schweizer Feuilletondienst, 14. Februar 2006
St. Galler Tagblatt, 27. Februar 2006
Freitag, 10. März 2006
Aargauer Zeitung / Mittelland Zeitung, 15. März 2006
Reformatio März/2006
Basler Zeitung, 7. April 2006
drehpunkt 124, April 2006
Mittelland Zeitung, 20. Mai 2006
Schaffhauser Nachrichten, 6. Juni 2006
Jahrbuch Winterthur 2007
Der Landbote, 18. September 2009

«Man scheint das Szenario zu kennen: Jemand verschwindet aus der literarischen Öffentlichkeit und stirbt irgendwann, zumeist arm und vergessen. Dennoch verstört jeder Einzelfall von neuem wie jetzt wieder Leben und Schaffen des Winterthurer Autors Walter Gross (1924–1999). Dank der Initiative des Limmat Verlags, der das verlegerische Risiko nicht scheut, kann man nun in einen Werkkosmos eintauchen und einem Menschen begegnen, der sich stets ‹zwischen den Scharmützeln der Schwermut› bewegt hat. Die beiden verdienstvollen Herausgeber, Peter Hamm und Erwin Künzli, präsentieren bewusst keine wissenschaftliche Edition, sondern eine Leseausgabe, die gleichwohl nicht umsichtige Sorgfalt vermissen lässt. In die Lebens- und Denkwelt von Walter Gross führt ein kenntnisreiches Nachwort von Peter Hamm.
(...)
Doch vor allem ist er Lyriker, dessen Gedichte auch heute noch oftmals betörend frisch anmuten. Berauscht von der Melodie Hofmannsthals, schrieb er zuerst Verse voller Emphase, die er im Lauf der Zeit zusehends drosselte und einer trockenen, spröden Tonlage zuführte. Den mahnenden appellativen Gestus, der heute eher stört, nahm er zurück. ‹Es werden nur wenige sein, die in meinen Gedichten mich wirklich sehen, gottlob. Die wenigen aber erhalten beinahe zu viel Aufschluss. Aber man gibt sich oder gibt sich nicht. Das Schreiben ist keine Spielerei›, schrieb er am 26. Juli 1957 an den Freund Hans Boesch. Immer aber wollte er, der Arbeitersohn, so schreiben, ‹dass mein Vater mich versteht und jeder, den ich mit einem Werkzeug in der Hand antreffe›.
(...)
Die schwierigen und oftmals vertrackten Lebensverhältnisse treten nirgends so unverstellt (aber niemals indiskret) zutage wie in den Briefen, die den zweiten Band dieser Werkausgabe füllen. Walter Gross pflegte eine erstaunlich umfangreiche und weit gespannte Korrespondenz mit Partnern im In- und Ausland. In der Schweiz fühlte er sich den Autorenfreunden Jörg Steiner, Kurt Marti, Rainer Brambach und Hans Boesch nahe; jenseits der Grenzen erkannte er vor allem in Johannes Bobrowski einen Bruder im Geist: ‹Ich denk, wir sind auf eine Weise zusammengekommen, die eine Trennung nicht mehr erlaubt›, schrieb der Freund aus Berlin-Friedrichshagen. Bestürzend zeigt sich in manchen Briefen die Not des Schreibers, der auch immer wieder gegen seinen Willen die Freunde um Geldzuwendungen angehen muss.
(...)
Es bleibt zu hoffen, dass mit dieser eindrücklichen Publikation seine Texte nun wieder zu einer Adresse finden.» Neue Zürcher Zeitung (Beatrice Eichmann-Leutenegger)

«Umso verdienstvoller ist es, dass sein Werk, das sich zu einem guten Teil aus der unglücklichen Liebe des Autors zu Doris Hilty nährte, nun in einer sorgsam gestalteten und reich dokumentierten Leseausgabe präsentiert wird. .(...) Es steht zu hoffen, dass Gross durch seine Texte und durch Peter Hamms biografischen Essay nun die Leser findet, die er verdient.» NZZ am Sonntag (Manfred Papst)

«(...) Faktum ist, daß Walter Gross alles aufgab, was mit Literatur und Literaturbetrieb zu tun hatte; auch die Brieffreundschaften und zuletzt die Freundschaften selbst. Die meisten Briefwechsel brechen Ende der sechziger Jahre ab. Gross wurde – mit dem Titel von Peter Hamms Nachwort – ‹ein Abhandengekommener›. Doch nicht das Scheitern an der Prosa war der eigentliche Grund für diesen Rückzug, auch nicht die schwere Tuberkulose, die um 1960 ausbrach und an deren Spätfolgen der Dichter bis in seine letzten Jahre litt. Das Entscheidende war etwas anderes: ein ‹terremoto› nennt Gross es in einem Brief an seinen Münchner Lektor. Dieses Erdbeben war der jähe Verlust einer Frau, mit der ihn ein langes, vom Ehemann und Freund toleriertes Liebesverhältnis verbunden hatte. Kurz: Diese Frau ließ sich von ihrem Mann scheiden, aber eben nicht um nun, wie von diesem erwartet, den Liebhaber zu heiraten, sondern um einem anderen Mann, einem damals sehr bekannten Literaturkritiker, zu folgen.
Das alles ist, mehr oder minder deutlich, in den Briefen nachzulesen, die unter dem Titel ‹Antworten› einen der beiden Bände der schönen Gesamtausgabe ausmachen. Leider ist manches verschollen; so die Briefwechsel mit Hans Carossa, Rudolf Kassner und mit Ingeborg Bachmann. Doch man wird reich entschädigt. Ehe er das Schweigen wählte, war Gross ein passionierter und vielseitiger Briefschreiber, ein guter Freund seinen Freunden und so offen wie geschickt gegenüber den Zelebritäten von Kultur und Literatur. Zumal mit Johannes Bobrowski verbindet Gross eine Freundschaft, die bis zu Bobrowskis frühem Tod reichte. ‹Ich denk, wir sind auf eine Weise zusammengekommen, die eine Trennung nicht mehr erlaubt›, schreibt Bobrowski schon in einem der ersten Briefe; Widmungsgedichte gehen hin und her.
Es sind gerade diese Briefe, die Gross auf dem Höhepunkt seiner literarischen Aktivitäten zeigen und den Abbruch seines OEuvres schmerzlich machen. Es sind die Gedichte des Bandes ‹Botschaften›, die Bobrowski hoch geschätzt hat und die noch heute standhalten. Das Gedicht ‹Nach Jahren› liest sich heute als Absage des Dichters an alle Verfügbarkeit, ja als frühes Vermächtnis: ‹Was ich verschweige, / kommt nicht über meine Lippen, / niemandem wird meine Zunge gefügig sein, / zu keinem Tag, zu keiner Stunde.›» Frankfurter Allgemeine Zeitung (Harald Hartung)

«(...) Nun haben der Limmat-Verlag und Peter Hamm eine wunderschön gestaltete zweibändige Werkausgabe von Walter Gross herausgebracht. Einen 400-seitigen Band mit sämtlichen Gedichten, dem ungedruckten Prosawerk, autobiografischen Texten und einem sympathisch-freundschaftlichen Lebensbild aus der Feder von Peter Hamm. Und einen zweiten, ebenso umfangreichen Band mit Gross' erstaunlichem Briefwechsel mit Förderern und Freunden wie Werner Weber, Max Rychner, Johannes Bobrowski, Hans Boesch, Kurt Marti, Jörg Steiner und anderen. So dass nun nicht nur Gross' literarische Hinterlassenschaft einsehbar ist, sondern auch sein Leben dazu in Beziehung gesetzt werden kann und erahnbar wird, wo die Gründe für sein Verstummen liegen könnten.
(...)
Peter Hamm deutet sie an, die Liebesenttäuschung, die Gross als sein «eigentliches terremoto» bezeichnet hat und die ihm 1968, als er mit Unterstützung von Pro Helvetia an einem Kindheitsroman arbeitete, seine Lebens- und Arbeitskraft raubte. Doris Hilty, die Frau des Schriftstellerkollegen und Förderers Hans Rudolf Hilty, wandte sich damals einem anderen Mann zu, nachdem Gross mit ihr 14 Jahre lang ein (von Hilty toleriertes) Liebesverhältnis aufrechterhalten hatte und die Hoffnung hegte, sie werde die Beziehung nach der Scheidung von Hilty legalisieren. Die Briefe an Steiner und Marti dokumentieren, wie bestürzend die Erfahrung für Gross war, und doch fällt es schwer, sein Verstummen allein mit diesem Liebesverlust zu erklären.

Exemplarische Erscheinung

Gross hatte als Autor auf eine Spielart von Literatur gesetzt, die weder mit seinem sozialen Status noch mit seiner politischen Haltung konform ging und für die es in den Sechzigerjahren wohl tatsächlich keine Zukunft mehr gab. Denn obwohl Johannes Bobrowski wunderbar Komplimentierendes zu seiner Lyrik gesagt hat, war Gross letztlich weit weniger mit diesem magischen Nachfahren Trakls als vielmehr mit dem Neoklassizismus eines Max Rychner oder eines Werner Zemp verwandt und trennten ihn Welten vom rebellischen Impetus Alexander Xaver Gwerders oder von der poetischen Unmittelbarkeit Rainer Brambachs, die Hamm als seine nächsten Verwandten erkennt.
Gross war dann am überzeugendsten – und berührendsten –, wenn er den Bildungsballast hinter sich liess und sich z. B. von einem toten Fisch zu einem ungeheuerlichen Epitaph hinreissen liess, einen seiner geliebten Vögel beschrieb oder der Schwermut Worte gab. Aber er war auch in seinem Scheitern und Verstummen noch eine imponierende, für die Nachkriegszeit in der Schweiz exemplarische Erscheinung, der die zwei gewichtigen Bände des Limmat Verlags nun in jeder Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren lassen.» Der Bund (Charles Linsmayer)

«Um 1960 erkrankte er schwer an Tuberkulose und verlor schließlich - für ihn wohl der härteste Schlag - die Frau, die er liebte, an einen damals bekannten Literaturkritiker. Er wurde rabiat ungesellig, zog sich in sein Schweigen zurück, verwahrloste im Alter, ein früh gebrochener Greis (wie Fotos zeigen), dessen Gedichte freilich erstaunlich frisch geblieben sind und die nun in einer vorzüglichen Ausgabe der Gesammelten Werke, für die Peter Hamm zu danken ist, wieder unverwechselbar zu uns sprechen.» Freitag (Michael Buselmeier)

«Wird Walter Gross die eben erschienene Werkausgabe jene Wiedergeburt erleben, die er verdiente? Es liegt nicht an ihm, liegt nicht am Limmat Verlag und nicht an Peter Hamm, dem kundigen Herausgeber und Nachwort-Verfasser, wenn das Wünschbare sich nicht ereignet. Schon eher an der dominierenden Event- und Spasskultur, in der einer, der wie Gross vom göttlichen Ursprung der Sprache tief überzeugt war, ein Fremdling bleiben muss. Die Ausgabe verwischt die Eigenart, das Fremde und Besondere des Dichters nicht, im Gegenteil: Sie passt sich diesem an, als wäre sie massgeschneidert. Die Titel der einzelnen Abschnitte sind ungelenk, wie mit einer alten, defekten Maschine geschrieben, und der Einband (solid, wie von Hand gefertigt), hat etwas Schweres an sich — als müsste er das schmale Werk zusammenhalten und schützen. Und vielleicht enthält dieser mit Porträtskizzen von Heinrich Bruppacher, einem engen Freund von Gross, versehene Einband auch eine Hommage an den Autor, der Buchbinder war, aber den ungeliebten Beruf so bald er konnte aufgab.
Je länger ich mich mit dieser Ausgabe beschäftige — und die dafür aufgewendete Zeit spottet jeder Arbeitsökonomie — desto mehr, desto unabweislicher kommt mir Walter Gross wie ein Revenant vor: ein Verschollener, welcher der Welt abhanden kam und der dann, zurückgekehrt, seine alte Umgebung nicht mehr kannte und von ihr nicht erkannt wurde.
(...) Am Ende des Bandes ‹Antworten› liest man, erschüttert und erschreckt über so viel ahnende Voraussicht, eines seiner schönsten und zugleich unheimlichsten Gedichte. Es bedarf keines Kommentars.» Reformation (Elsbeth Pulver)

«Allein die beglückende Wiederentdeckung dieser vollkommen daseinsverbundenen Gedichte von Walter Gross ist schon eine Offenbarung. Zum ergreifenden Lektüreerlebnis wird die Werkausgabe durch die Publikation ausgewählter Briefe des Dichters, die Peter Hamm, selbst ein Korrespondent des Dichters, nach langen Recherchen zusammengetragen hat. Hier liest man sich fest in den erschütternden Episteln, die Walter Gross an seine wenigen guten Freunde geschrieben hat. Vor allem die Briefe an Werner Weber, Hans Boesch, Jörg Steiner und Walter Helmut Fritz fügen sich zu einer bewegenden Poetik der existenziellen Inständigkeit: ‹Warum ich schreibe: erschrocken über das Dasein des Mundes, dieser Welthöhle›.» Basler Zeitung (Michael Braun)

«Fast 50 Jahre später staunt man darüber, wie frisch diese Lyrik geblieben ist.» St. Galler Tagblatt (Richard Butz)

«Endlich sind die gesammelten Werke des Dichters Walter Gross greifbar.» Aargauer Zeitung/Mittelland Zeitung

«Seine Gedichte erschienen vor vierzig, fünfzig Jahren, trotzdem wirkt ihre Sprache nicht veraltet. Die früheren sind eher geprägt von einem hohen Ton und verwenden Bezüge zu antiken Mythen, die späteren wenden sich vermehrt den alltäglichen Dingen zu. Alle sind sie heute noch gut zu lesen, da sie selten pathetisch sind. Orientiert an Vorbildern wie Hugo von Hoffmannsthal und Hermann Hesse, später Cesare Pavese, Bertolt Brecht und Joseph Roth, heben sie vor allem Selbsterlebtes und –erlittenes auf eine allgemeingültige Ebene. Das macht sie auch für uns nachvollziehbar, während manch andere Gedichte aus jener Zeit längst Staub angesetzt haben.» Der Landbote

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