Brief an meinen Sohn
Manuel Bauer

Brief an meinen Sohn

Über die Liebe zu einem behinderten Kind

96 Seiten, Klappenbroschur
2. Aufl., Juni 2017
SFr. 18.–, 17.– € / eBook sFr. 16.–
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978-3-85791-826-1

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«Unerhört ehrlich und berührend.» Tages-Anzeiger

Manuel Bauers Sohn Yorick hat sekündlich Störungen in seinen Hirnströmen und täglich grössere und kleinere epileptische Anfälle, die grösseren fahren in die Muskeln, und sein ganzer Körper verkrampft sich.

Yorick hatte diese Anfälle von Anfang an, jetzt ist er zehn. Vieles kann sich nicht entwickeln ob den Blitzen in seinem Nervensystem, seit zehn Jahren kauft Manuel Bauer zu Weihnachten dasselbe Spielzeug. Yorick kann nicht sprechen, weder Ja sagen noch Nein, er hat einen Rollstuhl, einen Essstuhl, einen Toilettenstuhl, ein Stehbrett. Das Aufstehen dauert eineinhalb Stunden, das Schlafengehen drei. Der Alltag mit ihm ist zugleich ein Arbeitstag für Manuel Bauer.

Yorick liebt Musik, und Yorick geht zur Schule, die ganz auf ihn abgestimmt ist. Er hat eine ganze Infrastruktur, nicht wie seine Schicksalsgenossin Dolma, die Manuel Bauer in Nepal auf ihrer Matte vor dem Haus liegen gesehen hat.

«Brief an meinen Sohn» ist ein spontaner und emotionaler Bericht über das Leben Manuel Bauers mit seinem Sohn, den er liebt, eine berührende Nachricht aus der Randzone unserer perfektionierten Leistungsgesellschaft.

Manuel Bauer

Manuel Bauer, geboren 1966, freischaffender Fotograf. Nach seiner Ausbildung zum Werbefotografen wandte er sich dem Fotojournalismus zu. Seit 1990 fotografiert er in Indien, der tibetischen Diaspora und Tibet. Internationale Bekanntheit erlangte er 1995 durch seine Reportage «Flucht aus Tibet». Seit 2001 persönlicher Fotograf des Dalai Lama. Zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen im In- und Ausland. Lehrtätigkeit am Medienausbildungszentrum MAZ Luzern. Lebt und arbeitet in Winterthur.

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Wir haben die Ambulanz schon lange nicht mehr gerufen ...

 

Wir haben die Ambulanz schon lange nicht mehr gerufen. Wir haben auch keinen Sauerstoff mehr in deiner Nähe. Das war ein Ding. Du machtest deinen Anfall, und wir wurden richtig geschäftig. Hantierten mit Ventilen und Schläuchen. Da hat man was zu tun. Richtig notfallmässig. Das war es auch.

Ist es immer noch. Aber der Notfall kann alltäglich sein. Es braucht nur eine gewisse Häufung. Und Regelmässigkeit. Easy, so lernt man. Man muss lernen, und man lernt, es auch ohne Aktivismus zu ertragen, im Stillen. Es kann nicht immer Ausnahmezustand herrschen, das hält man nicht durch. Man lebt das normale Leben, für die einen mit, für die andern ohne Notfall.

Ich musste auf dem Jungfraujoch fotografieren. Ich hatte mein Stativ auf einer Treppe aufgebaut. Die Japaner, die Europa in wenigen Tagen besichtigen, reagieren auf die Höhe oft mit ziemlicher Apathie. Immerhin der höchstgelegene Bahnhof Europas. Einer von ihnen zog sich am Treppengeländer Richtung Eisgrotte. Meine Kamera stand ihm im Weg. Man dürfte meinen, Japaner wissen was ein Stativ, eine Kamera ist. Aber er hielt sich an der Kamera fest und setzte seinen Fuss auf eine der Stativschrauben. Er dachte wohl, es sei eine Leiter. Ich führte ihn um die Kamera und setzte seine Hand wieder ans Geländer. Er verschwand ums Eck.

Wenig später donnerte ein metallener Abfalleimer von oben die Treppe herunter. Das muss wohl das nächste Hindernis gewesen sein. Ich eilte die Treppe hoch. Der erschöpfte Tourist lag ohnmächtig auf einem Absatz. Neben ihm kniete bereits ein Ober aus dem Restaurant und drückte ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. In der anderen Hand balancierte er routiniert sein Servicetablett. Er gab dem Japaner einen Klaps, sagte «Der kommt schon wieder» und ging weiter, damit das Wienerschnitzel nicht kalt wurde. Alles normal, siehst du.

Es gibt die Theorie, dass der künstlich zugeführte Sauerstoff deine Krampfanfälle verlängert, und es vielleicht besser ist, dir keinen Sauerstoff zu geben. In deinem Notfall schaltet dann dein System vielleicht früher auf Notfall. Weil du keine Luft mehr kriegst, reklamiert ein funktionierendes Teil in dir. Wenn du am ersticken bist, versucht die Atmung wieder einzusetzen, wehrt sich gegen den Krampf. So machen wir das. Schon lange. Und hoffen jedes Mal von neuem, dass es funktioniert. Und dass dein Hirn nicht zu lange ohne Sauerstoff ist.

Yvonne sagt, schreib darüber, dass du seit zehn Jahren zu Weihnachten im Spielzeugladen dasselbe kaufst. Die Verkäuferinnen denken wohl, ich hätte eine sehr fertile Familie. Jährlich diese Rasseln.

Glöckchen sind auch gut, die magst du. Ursache und Wirkung, es gibt Rückmeldung, deine Handlung bewirkt etwas. Theoretisch führt dich das zur unterstützten Kommunikation. Das liegt im Trend. Dank dem Computer können sich Menschen ohne Stimme zu Wort melden. Ich hab dir deinen Lieblingssong eine ganze Kassette lang hintereinander aufgenommen. Vom Abspielgerät führt ein Kabel zu einem grossen roten Knopf. Deine Motorik erlaubt dir, dieses Ziel zu treffen. Wenn du Lust hast, und wenn du fit bist. Dann spielt dein Lied für vierzig Sekunden. Wenn du weiterhören willst, dann drück den Knopf. Lernprozess. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du das verstehst.

In der Schule arbeiten sie nach diesem Prinzip und haben dann auch die Geduld zu warten, bis du wieder drückst. Vorher sägt die Elektrosäge nicht weiter, und es gibt kein Laubsägeligeschenk für die Eltern. Wenn du nicht drückst, mixt der Mixer nicht, und es gibt keinen Milchshake. Und zu Haus gäb’s dann kein Nachtessen und die Wäsche wäre nicht gewaschen und es wäre zwei Uhr in der Früh, bis wir alle im Bett wären. Zum Glück fehlt mir die Geduld. Aber es ist gut, das zu üben. Wenn ich die Kraft dafür habe. Und die Zeit. Das schlechte Gewissen, steter Begleiter des Abendländers.

An einer Tagung zum Thema gab es dutzende Apps und interaktive Kommunikationssysteme vom Feinsten und Ausgeklügeltsten. Es waren Leute da, die haben ganze Multimediavorträge gehalten mit Hilfe ihres Sprachcomputers. In der anschliessenden Diskussion wurde an einen Referenten eine Frage gestellt, und das Publikum wartete lange Minuten bis er die Antwort in den Computer gegeben hatte. Es war herzzerreissend anzusehen, mit welcher Entschlossenheit und Geduld er seinem Körper abverlangte, die richtigen Tasten zu erwischen. Aber es war auch unnatürlich, wie wir einfach dasassen und einen grossen Erwartungsdruck im Saal aufbauten. Ich wollte mich eben erheben und vorschlagen, man könne doch inzwischen ein anderes Thema diskutieren, damit der Referent genug Zeit habe, um in Ruhe seine Antwort zu formulieren, als er sein bisher Eingetipptes abspielte und genau diesen Vorschlag machte.

Dolma hatte keine Glöckchen. Sie lag jeweils auf einer Matte vor dem Haus eines Schmiedes ausserhalb der Stadtmauern von Lo Manthang auf 3700 Metern Höhe. Die Schmiede dürfen nicht in der Stadt wohnen, sie sind geächtet, weil sie der Erde Metall entnehmen.

Dolma war wie du. Sie lag einfach da. Sie konnte nicht sprechen, nicht gehen, und man musste ihr das Essen eingeben. Aber Dolma ist nicht in der wohlhabenden Schweiz geboren. Welch ein Glück du hast. All die Erleichterungen, Therapien, Versicherungen, Unterstützung und Förderung. Lo Manthang liegt in Nepal und war damals nur zu Pferd oder mit einem fünftägigen Fussmarsch erreichbar. Ich besuchte Dolma, wenn ich da war. Ich hätte ihr wenigstens Glöckchen oder eine Rassel mitbringen sollen. Als ich das letzte Mal da war, war sie tot.

Brigitte Magazin, August 2017
Caput Magazin, September 2017
Tages-Anzeiger, 11. September 2017
Netzwerk ethik-heute.org, Oktober 2017
Sonnenseite.com, 30. September 2017
Schweizer Illustrierte, Dezember 2017
P.S. Magazin, 24. August 2018
Forum (Mitgliedermagazin des BVF), Juni 2019
L.I.E.S (Lebenshilfe in eigener Sache), Juli 2019


«Ein bilderlos berührender Bericht.» Brigitte Magazin

«Ein Brief, den Yorick selbst wahrscheinlich nie lesen wird. So ist es viel mehr als ein Brief. Eine Liebeserklärung mit Tagebuchcharakter, ein Seelenblick mit Halsklossbildung, ein ungeschminktes Realitätsspiegelbild des Alltags, den sich die getrennten Eltern Andrea Linsi und Manuel Bauer – dem Nestprinzip folgend – im gemeinsamen Haushalt teilen.» Caput Magazin

«Es ist keines dieser Mutmacher-Sachbücher mit fröhlichen Umschlägen und
Bestsellerpotential. Es heisst ‹Brief an meinen Sohn› und ist in Du-Form verfasst. In unerhört ehrlichen und berührenden Sätzen schildert Bauer sein Leben mit Yorik.» Tages-Anzeiger

«Ein Zeugnis von Liebe, Geduld und radikaler Akzeptanz.« Netzwerk Ethik heute

«Manuel Bauer schrieb das ‹Büchlein›, wie er es selber nennt, auch für seine 17-jährige Tochter Marika. Sie soll einmal verstehen, warum sich ihre Eltern so intensiv um ihren jüngeren Bruder kümmern mussten. Manuel Bauer brachte für sie, für sich selbst und für die Öffentlichkeit seine Gedanken auf Papier – schnörkellos, aufrichtig und voller Liebe.»  Schweizer Illustrierte

«Ein berührender Bericht aus einer Zone, die von der grossen Mehrheit der Leistungsgesellschaft kaum wahrgenommen wird.»  P.S. Magazin

«Ein gut lesbares und spannend geschriebenes Buch. Es empfiehlt sich, in diese Sichtweise des Vaters einzutauchen, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und seinen Blick somit für die Praxis und die Familiensituationen, die immer wieder neu und herausfordernd sind, zu schärfen und zu erweitern.»  Forum

«Ein lesenswertes Bändchen! Berührend ist vor allem die grosse emotionale Nähe, die man zwischen den Zeilen spürt.»  L.I.E.S

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