Bilderstreit
Martin Gasser (Hg.)

Bilderstreit

Durchbruch der Moderne um 1930. Aus der Sammlung der Fotostiftung Schweiz und des Schweizerischen Werkbunds

Mit Texten von Martin Gasser, Irma Noseda / Mit Fotografien von Binia Bill, Hans Finsler, Herbert Matter, Ernst Mettler, Robert Spreng, Anton Stankowski

96 Seiten, Broschur, Fadenheftung, etwa 60–80 Duplex- und vierfarbige Fotos
1. Aufl., Oktober 2007
SFr. 38.–, 38.– €
vergriffen
978-3-85791-543-7

Schlagworte

Fotografie
     

1932 organisierte der Schweizerische Werkbund eine Ausstellung mit namhaften Schweizer Fotografen, welche die «neue fotografie» propagierten – ein Manifest gegen die traditionellen Bildauffassungen der so genannten Piktorialisten. Die vor kurzem wieder entdeckten Originale aus jener Ausstellung geben Anlass, den Bilderstreit von damals neu zu beleuchten.
Die hochkarätigen Vintageprints u.a. von Binia Bill, Hans Finsler, Herbert Matter, Gotthard Schuh, Max P. Linck, Robert Spreng und Anton Stankowski werden den Bildern von Fotografen gegenübergestellt, die mit weichen Konturen, getonten Papieren und romantischen Motiven weiterhin der Malerei des späten 19. Jahrhunderts nacheiferten (u.a. Fred Boissonnas, Johann Feuerstein, Stefan Jasienski, Emil Lüdin, Felix Marx). Weshalb lehnten sich die Avantgardisten so heftig gegen die «Kunst»-Fotografie auf? Ausstellung und Buch führen ins Zentrum einer Kontroverse, die den Durchbruch der Moderne begleitete und die Fotografie des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte.

Textprobe

«... dürfte es sich empfehlen, die Ausstellung künftig in zwei Teile zu gliedern,mit eignen Räumen und eigener Jury für jeden. Dann könnte sich jeder Einsender selbst aussuchen, ob er zur Abteilung ‹Camera› oder ‹Werkbund› gehören will und das Publikum würde sich alle beide Teile ansehen und sich vielleicht die Unterschiede überlegen.» Peter Meyer, Das Werk, September 1932

Trotz Peter Meyers Empfehlung gelang es Anfang der 1930er Jahre nicht, fotografische Edeldrucke von «Kunstphotographen» aus dem Umkreis der Zeitschrift Camera und Hochglanzabzüge von «neuen fotografen », die dem Schweizerischen Werkbund (SWB) nahe standen, für eine Ausstellung unter einem Dach zu vereinen. Zu gross waren die Differenzen zwischen den beiden Lagern, deren Vertreter, wie Meyer feststellte, «auf zwei verschiedenen Planeten» lebten. Die einen eiferten mit ihren romantischen, weich gezeichneten oder «impressionistischen» Fotografien immer noch der Kunst des späten 19. Jahrhunderts nach. Die anderen hingegen konzentrierten sich ganz auf die elementaren Mittel der Fotografie – Licht, Kameras mit scharf zeichnenden Objektiven, Papier – und versuchten alles, um die gängigen Regeln des Metiers buchstäblich auf den Kopf zu stellen – sehr zum Leidwesen der kunstbeflissenen Fotografen der «Abteilung Camera». Die «I. Internationale Ausstellung für künstlerische Photographie» (1932–35 jährlich in Luzern) und die «SWB-Fotoausstellung» (1932–33 auf Schweizer Tour) blieben unvereinbar. Erst heute können zum ersten Mal Originalfotografien aus den damals verfeindeten Lagern zusammen gezeigt und einander gegenübergestellt werden, in einer Ausstellung und in einem Buch. Damit kann der damalige Streit der Bilder und Worte, der den Durchbruch der Moderne in der Schweizer Fotografie begleitete und die Fotografie des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte, neu beleuchtet werden.

Anlass für das erneute Aufrollen dieses «Bilderstreits», ist die Wiederentdeckung einer Sammlung von Originalabzügen, die der Schweizerische Werkbund 1932–33 in seiner Wanderausstellung gezeigt hatte. Diese hochkarätigen Vintageprints von seit langem anerkannten Protagonisten der modernen Schweizer Fotografie wie Binia Bill, Hans Finsler, Herbert Matter, Ernst Mettler, Robert Spreng und Anton Stankowski befinden sich heute unter dem Namen «Fotosammlung SWB» als Dauerleihgabe in der Sammlung der Fotostiftung Schweiz. Originalabzüge der Gegenspieler, welche die Fotostiftung Schweiz seit Jahren gesammelt hat, stammen etwa aus der «Meistersammlung» des Schweizerischen Photographenverbands oder aus Nachlässen von «Kunstphotographen» wie Heinrich Bauer (Herisau), Stefan Jasienski (Biel), Emil Lüdin (Zürich) und Carl Schmid (Basel) – allesamt Fotografen, die nach Mitte der 1930er Jahre in Vergessenheit geraten sind. Die meisten konnten sich mit den modernen «neusachlichen » Tendenzen nicht abfinden und wurden von den Kritikern, Sammlern und Historikern schnell als ewiggestrige Romantiker abgetan. Diesem Umstand ist es sicher auch zuzuschreiben, dass es keine geschlossene Sammlung aus einer der «Internationalen kunstphotographischen Ausstellungen» gibt. Auch Dokumente scheinen kaum überlebt zu haben. Die Zeitschrift Camera ist die wichtigste Quelle, in der nicht nur die Polemik des «Bilderstreits» in aller Breite dokumentiert ist, sondern auch zahlreiche Bilder aus den Luzerner Ausstellungen illustriert und kommentiert sind. Obwohl die «neue fotografie» in der Schweiz bereits 1926 auf den Plan trat, und zwar in Hannes Meyers programmatischem Essay «Die neue Welt» in der Zeitschrift Das Werk, entstand der «Bilderstreit» erst als Folge der Ausstellung «Film und Foto» des Deutschen Werkbunds 1929. Unterstützt von Wortführern des SWB wie Sigfried 3 Giedion und Georg Schmidt entfaltete sich die «neue fotografie» im Netzwerk des Schweizerischen Werkbunds, vor allem in der Deutschschweiz. Die Wanderausstellung des SWB wurde zwar auch in Lausanne und La Chaux-de-Fonds gezeigt, doch scheint sie dort keine ästhetische Debatte provoziert zu haben. «L'OEuvre», die Schwesterorganisation des SWB in der Romandie, die für die Ausstellung verantwortlich war, setzte sich nur halbherzig für die neue Richtung ein und war mehr daran interessiert, lokale Fotografen in den Vordergrund zu stellen. Auch das Tessin schaltete sich nicht in die Diskussion ein. Dennoch setzte sich bis Ende der 1930er Jahre die «neue fotografie» in der ganzen Schweiz durch – wenn auch in einer bedeutend weniger radikalen Form als ursprünglich propagiert. Vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen in Europa nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 verlor die «Kunstphotographie» ihre Bedeutung zwar schnell, doch wurde die «neue fotografie» mit der aufkommenden Geistigen Landesverteidigung von einer nicht weniger «romantischen » und zunehmend populären Heimatfotografie bedrängt.

Der fotografische «Bilderstreit» um 1930 hatte aber eine lange Vorgeschichte, deren Ursprung im Medium Fotografie selbst liegt. Nämlich im Umstand, dass die beiden praktisch gleichzeitig erfundenen ersten fotografischen Techniken, die Daguerreotypie (ein Unikat auf einer hochglänzenden Metallplatte) und die Kalotypie (vervielfältigbare Papierkopien ab Papiernegativ) sich sofort konkurrenzierten: das gestochen scharfe, «mechanisch» perfekte Abbild der sichtbaren Realität gegen das leicht unscharfe, nach künstlerischen Kriterien gestaltete Bild. Einerseits also Fotografie als autonomes, d.h. nur seinen eigenen Gesetzen gehorchendes Medium, und andererseits Fotografie als Erweiterung der bereits existierenden künstlerischen Bildtradition – kurz: Dokument versus Kunst. Die selben, damals unvereinbaren Unterschiede provozierten gegen Endes des 19. Jahrhunderts die Bewegung der Amateure mit künstlerischem Anspruch und gaben Anfang der 1930er Jahre den Anstoss zur Kontroverse zwischen den «Kunstphotographen» und den «Fotografen SWB». Und heute? In unserer durch und durch mediatisierten Welt steigt für eine Debatte über unterschiedliche Auffassungen in der Fotografie niemand mehr auf die Barrikaden – alles ist erlaubt, alles ist denkbar, alles ist machbar. Unterschiede verwischen sich zusehends und die Frage, ob die Fotografie Kunst sei oder sein könne, hat sich längst erledigt – sie kann, das Dokumentarische ist selbst zum Kunststil geworden. Die Errungenschaft der Moderne, die Beschränkung auf die genuinen Mittel des Mediums, hat sich also durchgesetzt, nur haben sich eben diese Mittel im Zuge der Digitalisierung so sehr verändert und erweitert, dass das «Wesen» der Fotografie erneut hinterfragt werden muss.

Martin Gasser
   
Tages-Anzeiger, 25. Oktober 2007
P.S., 1. November 2007
NZZ, 10. November 2007
NZZ am Sonntag, 9. Dezember 2007
Fotogeschichte, Winter 2007
Kasseler Fotoforum, 20. Dezember 2007
Tages-Anzeiger, 9. Januar 2008
Rundbrief Fotografie, Vol. 15 (2008), Nr. 3

«Die Fotostiftung reinszeniert die damalige, scharf geführte Debatte zwischen Piktorialisten und Vertretern des Neuen Sehens in einer packenden Präsentation. Es kommt nun zur direkten Gegenüberstellung der beiden Lager. Weich gezeichnete, malerische Motive hängen neben den messerscharfen Fotos der damals jungen Wilden. Ein Fest für die Augen und eine nützliche schulung des Blicks obendrein.» Tages-Anzeiger

«‹Bilderstreit› bringt fotografische Lebenswerke wieder in Erinnerung und ermöglicht vor allem einen wissenschaftlichen und fachkundigen Einblick in die ästhetische Bildkontroverse in der Schweiz um 1930. Die Publikation überzeugt dabei nicht nur auf Textebene, sondern auch bei der Abbildungsqualität der Reproduktionen.» Rundbrief Fotografie

Bilderstreit

Die Bilder sind urheberrechtlich geschützt: Keine Verwendung irgendwelcher Art ohne Genehmigung des Verlags.

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Hans Finsler, Kaffeegeschirr, 1930

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Hans Finsler, Strand (Sandformen II), um 1928

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Emile Gos, Etude, ohne Datum

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Max Burkhardt: Alter Bachlauf, ohne Datum

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Heinrich Bauer, ohne Titel, 1930er-Jahre

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Herbert Matter, Kind (Zigeunermädchen), 1932

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Robert Spreng, Blätter, um 1932

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Max Burkhardt: Alter Bachlauf, ohne Datum

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