Unter dem Siegel der Verschwiegenheit
Charlotte L. Staehelin-Burckhardt

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit

Aus den Tagebüchern einer Baslerin des Fin de Siècle 1877-1918

Herausgegeben von Paul Hugger, Paul Hugger

Das volkskundliche Taschenbuch [32]

744 Seiten, Paperback, 2 Bände, 100 s/w-Bilder und 14 farbige Abbildungen
Februar 2003
SFr. 58.–, 39.50 €
vergriffen
978-3-85791-419-5

Schlagworte

Basel Restexemplare
     

Die Tagebücher von Charlotte Staehelin-Burckhardt, in früher Jugend begonnen und bis ins reife Alter fortgesetzt, bieten ein erstaunliches Panoptikum von Alltag und Fest der Basler Gesellschaft um 1900. Getreulich schildert «Lolly» ihre Erlebnisse, Gefühle und Träume.

Einer wohl behüteten Kindheit — sommers auf dem herrschaftlichen Wenken in Riehen, winters im Stadthaus an der Augustinergasse — folgen ein Welschlandjahr im Institut und Aufenthalte in London, wobei die junge, hübsche Dame Zutritt zu den Anlässen und Empfängen des Hofes hat. Die entsprechenden Schilderungen sind köstlich und entbehren nicht des baslerischen Humors.

Nach der Wunschheirat beginnt das Leben als Arztgattin mit erstem Mutterglück. Ihr Mann wirkt als Kurarzt auf Rigi Scheidegg, später in Bad Ragaz, während des Krieges als Chefarzt in einem süddeutschen Lazarett. Was immer «Lolly» schreibt, belegt eine scharfe Beobachtungsgabe und ein kritisches Urteil. Die Grippeepidemie von 1918 beendet abrupt dieses eindrückliche Frauenleben.

Charlotte L. Staehelin-Burckhardt

Charlotte L. Staehelin-Burckhardt

Charlotte Louise Staehelin-Burckhardt, 1877 bis 1918, aufgewachsen in Basel. Welschlandjahr in Colombier. Drei Aufenthalte bei ihrer in London verheirateten älteren Schwester. 1901 Heirat, Geburt dreier Kinder. 1906 bis 1910 auf Rigi Scheidegg — ihr Ehemann war Kurarzt —, 1912 in Bad Ragaz. Reise nach Nordafrika im Jahre 1913. Grippetod im Dezember 1918.

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Paul Hugger
© Yvonne Böhler

Paul Hugger

Paul Hugger, 1930–2016, Studium der Volkskunde, Ethnologie und Romanistik, em. Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich. Zahlreiche Publikationen über Schweizer Fotografen, zur Alltagsfotografie, Herausgeber u. a. des Handbuchs der Schweizerischen Volkskultur, «Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre», Herausgeber der Reihe «Das volkskundliche Taschenbuch» und Mitherausgeber «FotoSzene Schweiz» im Limmat Verlag.

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Coach Meeting im Hyde Park und ein schrecklicher Besuch im Zoo von London

Am dreissigsten Mai fand im Hyde Park eine interessante Coach Meeting statt. Charles, Lilly und ich gingen per Wagen hin, vormittags 11 Uhr, und sahen wir eine nach der anderen, immer mit 4 prächtigen Pferden bespannt, an uns vorbeifahren. Im Ganzen waren es 22 Wagen. Natürlich führte immer der Herr selbst, neben dem die Ehrendame sass. Herren und Damen sassen auf kleinen Bänken sich gegenüber, und zu hinterst zwei Kutscher. Im Innern der Wagen lagen alle Mäntel der Fahrenden, und hinten in einem Kasten befanden sich die Esskörbe. Besonders gefiel mir eine gelb gemalte Coach mit vier reizenden Grauschimmel.

Lange schon plagten mich Cheddy und Marco, mit ihnen in den Zoo zu gehen. Doch hatte ich oder Lilly immer etwas anders vor. Endlich an einem schönen Sonntag nachmittag wollte Charles mit mir und den Buben nach dem zoologischen Garten gehen. Mir war es schon den ganzen Tag schlecht gewesen, doch dachte ich, die Luft und das Fahren würden mir gut tun, und ging mit. Jedes durfte nun sagen, was es speziell gerne sehen würde. Cheddy und Marco fanden die Affen und Pelikane am lustigsten, indes ich gerne Crocodile sehen wollte. Es war eine dumme Idee von mir gewesen, aber kurz, wir gingen nach den Affen zu dem Crocodilenhaus. Schon beim Eintreten war eine dumpfe, erstickende Luft in dieser Halle und eine doppelt so arge Hitze wie draussen. Charles zeigte mir viele Crocodile und auch alle Schlangen, die sich dort befanden. Plötzlich wurde ich ganz heiss, dann wieder ganz kalt, die einzelnen Schlangen sah ich nicht mehr, alles schlängelte sich vor meinen Augen, und an der Hand riss ich Marco mit mir, nur noch in der Angst, er würde den Finger irgendwo hineinstecken, denn gesehen hätte ich nichts mehr. Charles kam mit Cheddy, und als er mich anschaute, um mir eine besonders flotte Schlange zu zeigen, die ich gar nicht mehr sah, lief ich zur Halle hinaus und konnte mich gerade noch auf eine Bank setzen, wo ich regungslos dasass. Charles wollte heim, jedoch dauerten mich die Kinder, die sich so lange auf die Tiere gefreut hatten, nun wegen mir so schnell wieder fort zu müssen. Ich raffte mich auf, und wanderten wir noch zu den Pelikanen. Jedoch dort wurde es mir wieder so schlecht, dass mich Charles in den Wagen brachte und wir vier heimfuhren. Auf dem ganzen Weg schloss ich die Augen und konnte Cheddy, der als etwas von mir über ein Tier wissen wollte, keine Antwort mehr geben. Endlich nach einer langen Fahrt wurde es mir dann zu Hause wieder gut und reute es mich, nicht mehr von dem sehenswerten berühmten Zoo gesehen zu haben.

Das grosse Fest der Schweizerkolonie

Am 5. Juni kam dann das grossartige Schweizerfest. Nach dem Lunch begaben wir uns gleich nach Portmannrooms, wo ein grosser Saal gemietet wurde, um das Fest abzuhalten. Eine kleine Bühne war errichtet worden, woselbst alle Aufführungen sich abspielten. Die Hauptprobe ging zwar sehr schlecht, sodass wir alle ganz découragiert waren. Jedoch als abends alle Leute versammelt waren und eine allgemeine animierte Stimmung herrschte, ging's dann brillant, und amüsierte jedermann «les deux timides». Um 12 Uhr war dann ein Empfang bei Dr. Käser, wo ein herrliches kaltes Essen uns erwartete, sodass wir Morgens gegen 3 Uhr vergnügt über dem gelungenen Fest zu Hause anlangten. [...]

Die Rennen von Ascot

Am 16. Juni war nun wieder ein besonders interessanter Tag. Es fanden die grossen Rennen in Ascot statt. Morgens 9 Uhr verliessen Charles, de Pury und ich Lexham gardens und fuhren per Wagen über Tower-Bridge nach. . . . . . . Station, wo unaufhörliche Menschenmassen schon auf die Ascot-Züge warteten. Alle 10 Minuten fuhr ein neuer Zug voller Menschen ab, indes auf dem zweiten Geleise alle leeren Züge wieder zurückkamen. Wir warteten eher lange, bis endlich drei gute Plätze in einem Waggon gefunden wurden und wir vergnügt davonsausten. An allen Stationen warteten Leute zum Einsteigen, die aber nie Platz fanden. Es war sehr heiss, doch wundervolles Wetter. Jedermann war en grande toilette, darüber einen schönen oder auch abscheulichen Regenmantel, und auf den Köpfen sah man, was die Hüte anbelangte, das Neuste und Verrückteste.

Ich war im Chinérock und im neuen Cape und auf dem Kopf meinen neuartigen Hut mit den Hortensien und Schwertlilien und grünen Bändern.

Nach etwa einer Stunde erreichten wir Ascot, und wälzte sich nun ein unabsehbarer Strom von Menschen nach dem Rennplatz. Grosse Häuser von Tribünen standen da, die nur zu diesem Zwecke jahraus und –ein stehen bleiben. Zuerst kam die grosse Tribüne, wo jedermann mittels eines unerhört teueren Billettes hingelangen konnte. Daneben kam ein Stück Wiese auf vier Seiten eingehegt, wo sich alle Wettenden mit ihren Geldtaschen aufhielten. Das war nämlich etwas speziell Merkwürdiges zu sehen. Im Gras stand ein Sack neben dem anderen, und als die Rennen anfingen, erschienen die Herren, und erfolgte nun ein Gebrüll, um die Leute zum Wetten anzuspornen. Ich natürlich habe nie mitgewettet, denn man zahlte enorme Summen, und gab es Leute, die so ihr ganzes Vermögen verloren.

Endlich kam das grosse Haus, worin sich der Hof aufhielt. Gegen die Rennbahn waren grosse Terrassen, wo man alle [Mitglieder des Königshauses] herrlich betrachten konnte. Daneben kam dann die Tribüne für die Diplomaten oder sonstige Herzöge oder vom Hof Eingeladene. Nur selten hielt man sich zwar auf der Tribüne auf, man hatte eigentlich nur Plätze, um bei Regenwetter geschützt zu sein; denn vor diesen zwei Tribünen war ein grosser Platz mit Stühlen, und da war man der Bahn viel näher. Natürlich war das Ganze wieder auf allen Seiten abgeschlossen und standen an den Ausgängen besondere Hüter, die niemanden einliessen als die, die das besondere Hofzeichen sichtbar auf sich trugen. Man konnte natürlich die ganze Zeit hin- und herspazieren wie auch den speziellen Platz, wo die Pferde herumgeführt wurden, besuchen. Kamen die Tiere von einem Rennen zurück, bekamen sie aus grossen Kübeln Champagner zu trinken. Auch war in einem besonderen Haus eine grosse Waage, wo Reiter und Pferde vor und nach dem Rennen genau gewogen wurden. Und wenn sie zu leicht waren, wurde unter den Sattel kleine Säckchen mit Schrot befestigt.

Was die Pferde anbelangte, sah man hier die schönsten Tiere, und hatten sie alle mehr oder weniger dünne Beine, was auch das Hauptzeichen der englischen Rennpferde ist. Natürlich waren alle Vollblutpferde und keines über 5 Jahre alt.

Um 1 Uhr begannen die Rennen, und dauerte ein Rennen etwa eine halbe Stunde. Hintereinander folgten nun: the Trial Stakes, the Ascot Stakes, the Coventry Stakes, the Prince of Wales Stakes, the Gold Vase and the first year of the thirty-ninth Ascot Biennal Stakes. Um ½ 5 Uhr waren sie zu Ende. Dazwischen ass man aber in grossen Zelten zu Mittag, und gingen wir in Charles› Club, dem Cavallery-Club, der ein weiss und rot [gestreiftes] Zelt arrangiert hatte, wo nur die Mitglieder hinein durften. Wir trafen die ganze französische Ambassade, die alle mit uns an einem Tisch sassen, und war es höchst lustig. Alle waren charmant mit mir, und animiert amüsierte ich mich besonders mit dem jungen Attaché M Seydouce.

Abends fuhren wir dann auch mit ihnen im gleichen Waggon zurück. Doch war es noch viel schlimmer als am Morgen, da alles auf die erst-abgehenden Züge raste, um sich darein zu stürzen. Ich wurde hereingepufft und drückte mich hinter M de Pury in eine Ecke des Waggons, weil ich vor all den Menschen so Angst hatte, es passiere noch etwas. Doch erreichten wir glücklich London wieder, und lud man mich unterwegs auf den gleichen Abend an eine grosse Réception, die die französische Ambassade gab, ein. Jedoch war ich zu müde, um mich noch ganz umzukleiden, sodass ich dankend ablehnte.

Denn nach dieser Réception hätte ich mit Charles noch an eine zweite, zum japanischen Minister gehen sollen, und das war mir zu viel. [...]

«‹Lolly›, wie sie genannt wurde, beschreibt höchst anschaulich und mit jenem bissigen Humor, der dem Daig eigen ist, wie es damals zu und her ging.» Tages-Anzeiger

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