Zweifache Eigenheit
Rafael Newman (Hg.)

Zweifache Eigenheit

Neuere jüdische Literatur in der Schweiz

264 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
September 2001
SFr. 38.–, 38.– €
vergriffen
978-3-85791-371-6

Schlagworte

Judentum
     

Diese Anthologie rückt ein spezielles Stück Schweizer Kultur ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Von Luc Bondy bis Stina Werenfels, von Gabriele Markus bis Jean-Luc Benoziglio reicht das vielsprachige Spektrum schweizerisch-jüdischer Literatur. Allen präsentierten Texten gemeinsam sind ein lebendiger Umgang mit der Vergangenheit und ein Sinn für das Fortleben alter Traditionen im zeitgenössischen Alltag.

Die Sammlung zeugt aber auch von der Vielfalt in der Gegenwartsliteratur von Schweizer Jüdinnen und Juden: Da ist etwa Sergueï Hazanov, der die Tücken der «multikulturellen» Schweiz anhand der mythenumwobenen Chasaren erläutert, da ist Marianne Weissberg, die eine bitterböse Gesellschaftssatire über das heutige Zürich liefert, oder da ist Daniel Ganzfried, der die Geschichte Abrahams und Isaaks unter Holocaustüberlebenden im Luftraum über Manhattan neu inszeniert und so einige der Hauptfäden der modernen westlichen Kultur gewaltig zusammenflicht.

Rafael Newman

Rafael Newman

Rafaël Newman studierte in Toronto, Berlin und Paris, promovierte in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Princeton. Lebt seit 1998 als Autor und Übersetzer in Zürich.

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Vorwort 3

Daniel Ganzfried, Der Absender 78

Rose Choron, Schweizer Aufenthalt 91

Jean-Luc Benoziglio, Le Feu au lac 95

Yvonne Léger, Eljascha 109

Charles Lewinsky, Hitler auf dem Rütli 122

Roman Buxbaum, Träume 130

Marta Rubinstein, Der Schneider 140

Luc Bondy, Elsa oder wo war ich? 147

Gabriele Markus, Ausgewählte Gedichte und Zugvögel, wir 151

Sylviane Roche, Le Temps des Cerises 166

Sergueï Hazanov, Lettres russes 176

Amsel, Im Turm 184

Shelley Kästner, Antisemitismus oder die Lust, gemein zu sein 190

Michael Guggenheimer, Adler 199

Regine Mehmann Schafer, Trefe und Kascher 203

Marianne Weissberg, Männerjagd oder Lili und die Schmocks 207

Miriam Cahn, WAS MICH ANSCHAUT 219

Stina Werenfels, Pastry, Pain & Politics 228

Aus dem Vorwort von Rafaël Newman

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Angesichts der aufgesplitterten und wechselhaften Geschichte jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in der Schweiz bis ins späte 19. Jahrhundert hinein dürfte es eigentlich nicht überraschen, dass die wenigen Stücke, die man als schweizerisch-jüdische Literatur aus der Zeit vor der Emanzipation bezeichnen könnte, entweder nicht ganz schweizerisch oder nicht ganz literarisch – oder nicht einmal wirklich jüdisch sind: ein mittelalterliches Gedicht von Süsskind von Trimberg, einem deutschen Spruchdichter, der lange Zeit (fälschlich) als Jude galt und dessen Werke erstmals im mittelalterlichen Zürich gesammelt wurden; ein Kommentar zu einem volkstümlichen Buch über jüdische Rituale und mit jüdischen Gebeten, folglich keineswegs ein literarisches Werk im strengen Sinn des Wortes, das im 14. Jahrhundert von einem Schweizer Rabbi zusammengestellt wurde; sowie der ausführliche Bericht eines protestantischen Pastors zur Geschichte der Juden in der Schweiz aus dem 18. Jahrhundert, in dem er unter anderem seine Hypothese darlegt, ein beliebtes Werk der Schweizer volkstümlichen Literatur könnte seinen Ursprung in während des jüdischen Passahfestes gesungenen allegorischen Versen haben. Von einer jüdischen Bevölkerung, die mehrere Jahrhunderte hindurch klein, ländlich geprägt und instabil gehalten wurde, konnte man schliesslich kaum erwarten, etwas hervorzubringen, das eigentlich des Gärstoffs und der Anregungen und Wechselwirkungen bedarf, die die grossen städtischen Zentren der frühen Moderne bieten.

Die Zeit vor der Emanzipation: ein Spruchgedicht, ein Buch der Segenssprüche und ein Lied

Bedenkt man, welch bedeutende Rolle Zürich später, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, als wichtige Durchgangsstation für die Literatur der deutschsprachigen Welt spielen sollte, erscheint es wohl einigermassen passend, dass die Schweizer Metropole, als sie zum ersten Mal mit einem angeblich »jüdischen« Schriftsteller in Berührung kam, diesen auch förderte und zu seiner Verbreitung beitrug.45 Dass dieser »jüdische« Dichter (zweifelsohne unbeabsichtigt) den Eindruck erweckt hatte, er sei jüdischer Abstammung, indem er sich in seinen Versen als »Jude« ausgab – in dem offenkundigen Versuch, seine Niedergeschlagenheit spürbar deutlich zu machen –, so findet dies in der heutigen Schweiz, in der der Fall von Bruno Doessekkers literarischer Maskerade als Jude in den letzten Jahren die Kulturszene in Aufregung versetzte, ein ironisches Echo.

Die Manessische Liederhandschrift, auch Codex Manesse genannt, die sich jetzt im Besitz der Universitätsbibliothek Heidelberg befindet, ist eine von Rüdiger von Manesse – Ritter und Ratsherr – sowie seinem Sohn Johannes im frühen 14. Jahrhundert in Zürich zusammengestellte Sammlung höfischer Dichtung; sie umfasst etwa sechstausend Verse, darunter zwölf Gedichte eines gewissen Süsskind von Trimberg, eines mittelalterlichen Spruchdichters. Dieser lebte vermutlich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Oberfranken und stellt sich in einem berühmt gewordenen Gedicht scheinbar als Jude dar.46 Schon die Möglichkeit, unter den mittelalterlichen höfischen Dichtern des deutschsprachigen Raums habe sich ein Jude befunden, löste zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte der Germanistik Kontroversen aus, und die tatsächlichen »ethnischen« Ursprünge Süsskinds wurden von Vertretern unterschiedlicher akademischer, ästhetischer und politischer Ideologien untersucht (und phantasievoll rekonstruiert); teilweise wird er in der Fachliteratur nach wie vor als Jude bezeichnet, obwohl zwingende Beweise für das Gegenteil sprechen.47 Auf ähnliche Weise wirft die Kernfrage, was genau an Süsskinds Versen (oder, genauer gesagt: ihrer vorgetäuschten moralischen Haltung, da in diesem Genre häufig zu gesellschaftlichen Fragen Stellung genommen wurde) als »jüdisch« bezeichnet werden könnte – abgesehen von dem einmaligen unmittelbaren Gebrauch des Wortes Jude (iuden) –, Probleme auf, die weit über das Ästhetische hinausgehen, da sie trotz der Dürftigkeit schon allein der »rassischen« Voraussetzungen für eine solche Behauptung ein bedeutsames und eindeutig identifizierbares »jüdisches Schrifttum« unterstellen.

All dies sollte jedoch die Tatsache nicht in den Hintergrund treten lassen, dass zumindest ein Text eines Dichters des 13. Jahrhunderts, der in deutscher Sprache schrieb, in der Schweiz des Mittelalters (postum) »veröffentlicht« wurde, in dem sowohl ein Dasein als Jude wie auch das Leben eines Künstlers ausdrücklich »thematisiert«, das heisst, zu einem anschaulichen und bedeutsamen Vehikel der Vermittlung des zentralen Bildes des Gedichts gemacht werden. In der Tat wird in Süsskinds Text figuratives »Judentum« zum eigentlichen Symbol der Nöte und Entbehrungen eines Lebens als Schriftsteller und schafft so ein faszinierendes Geflecht von bildlichen Ausdrucksweisen oder Tropen.

Ich var uf der toren vart
mit miner künste z’ware,
daz mir die herren niht welnt geben,
daz ich ir hof wil vliehen,
unt wil mir einen langen bart
lan wahsen griser hare,
ich wil in alter juden leben
mich hinnan vür wert ziehen,
min mantel der sol wesen lank,
tief under einem huote,
demueteklich sol sin min gank,
und selten me gesingen hovelichen sank,
sit mich die herren scheident von ir guote.>48

Die vorgeblich beiläufige Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Gönnerschaft, der Gestalt des »alten Juden« und gesellschaftlicher Ausgrenzung könnte rein zufällig sein oder aber in der Tat schlicht die Verfügbarkeit des Bildes »des Juden« widerspiegeln, um die Situation des Parias zu veranschaulichen; aufschlussreich ist in jedem Fall, dass in dieser frühen Schilderung eines Daseins als Jude in einem schweizerischen literarischen Kontext ein ironisch gebrochenes Bewusstsein der Kommerzialisierung von Kunst wie auch der Launenhaftigkeit des Publikums zum Audruck kommt: im Bild des Ausgeschlossenseins des umherwandernden Juden aus der Zunft der Sänger.

Im 14. Jahrhundert erschien dann das Werk eines gewissen Mosche von Zürich, eines Gelehrten, der bei Rabbi Yitzhak ben Yosef und dessen Schüler Rabbi Perez – beide stammten aus Corbeil in der Nähe von Paris – studiert hatte, ehe er die Stelle eines Rabbi der jüdischen Gemeinde in Zürich übernahm. Ergebnis seiner Studien in Frankreich war ein Kommentar zu Rabbi Yitzhaks »S’maq« – der Titel ist ein Akronym aus den hebräischen Worten sefer mitzvot qatan, »Büchlein der Segenssprüche«, nicht zu verwechseln mit dem Sefer Mitzvot Gadol von Coucy, der bis zur Veröffentlichung des Shulchan Aruch49 im 16. Jahrhundert verbreitetsten Anleitung zur Einhaltung der jüdischen religiösen Vorschriften. So umfassend war Rabbi Mosches Kommentar zum »S’maq«, dass der Name des Entstehungsortes auf das Werk als ganzes übertragen wurde, das schliesslich unter der Bezeichnung Zürcher Semak oder Zürcher S’maq bekannt wurde.50 Eine Handschrift des Textes mit Mosches Anmerkungen jeweils am Rand der Seite ist in der Bodleian-Bibliothek in Oxford zu sehen. Rabbi Mosche selbst ereilte ein weit weniger erfreuliches Schicksal. Wie entsprechende Nachforschungen nahelegen, wurde er – zusammen mit den übrigen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Zürich – 1349 auf dem Scheiterhaufen verbrannt: die offizielle Reaktion der Schweizer auf Gerüchte, Juden hätten öffentliche Brunnen vergiftet oder seien am Wüten der Pest mit schuld.51 Auf diesen mörderischen Ausbruch von Judenhass folgte schliesslich 1436 ein Erlass, der Juden die Ansiedlung in Zürich wie auch anderen Gegenden der Schweiz verbot. Dieser Erlass blieb bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein in Kraft.

 

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Anmerkungen

45 Für Näheres zur interessanten Geschichte von Zürcher Literaturagenturen in jüngerer Zeit siehe Franziska Schläpfer, »Der Literaturagent, Freund und Helfer der Autoren«. In: Der Tages-Anzeiger vom 26. April 2000, S. 65.

46 Häufig wird als Beweis dafür, Süsskind sei tatsächlich Jude gewesen, eine Illumination in dem Manuskript angeführt, die einen Mann – angeblich Süsskind – zeigt, der eindeutig die unverwechselbare Kleidung eines mittelalterlichen Juden trägt und sich mit einem christlichen Amtsträger unterhält; siehe als Diskussionsgrundlage Ingo F. Walther, Codex Manesse: Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1988). Eine erschöpfende Deutung der Gestalt Süsskinds sowie Übersetzungen seiner Gedichte ins Neuhochdeutsche finden sich in Dietrich Gerhardt, Süsskind von Trimberg: Berichtigungen zu einer Erinnerung (Bern u. a.: Peter Lang, 1997); siehe insbesondere S. 272–282 – an dieser Stelle kommt Gerhardt zu dem Schluss, Süsskind sei keinesfalls Jude gewesen.

47 Zu einer Diskussion der Auseinandersetzungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts um Süsskinds Stellung im Codex Manesse sowie zu der Bedeutung, die diese Diskussion für die Ausprägung der Germanistik in der Schweiz hatte, siehe Bettina Spoerri, »Ein jüdischer Spruchdichter im Zürcher Manesse-Codex? – Die germanistische Kontroverse um Süsskind von Trimberg«. In: Corina Caduff und Michael Gamper (Hrsg.), Germanistik in der Schweiz – Schweizer Germanistik: Eine wissenschaftliche Reflexion (Zürich: Chronos Verlag, 2001). Zu denen, die Süsskind nach wie vor als Jude bezeichnen, siehe Bettina Spoerri, »Tausend Jahre unbestimmtes Deutschland«. In: Der Tages-Anzeiger vom 22. Mai 2000, S. 50, eine Besprechung von Rolf Schneider, Vor 1000 Jahren: Alltag im Mittelalter (Augsburg: Weltbild Buchverlag, 1999).

48 Fürwahr, ich geh’ auf Thorenfahrt
Mit meiner Kunst der Lieder;
die Herren geben keine Spende,
Ich flieh’ aus ihrem Kreis.
Es wachse mir ein langer Bart
Von grauen Haaren wieder;
Ich lebe nun bis an mein Ende
In alter Juden Weis’.
Mein Mantel sei nun wieder lang,
Die Stirn tief unterm Hute,
Demüthig auch soll sein mein Gang
Und nicht mehr singen will ich höfisch edlen Sang,
Da mir kein Herr was gönnt von seinem Gute.

Beide Texte (hochdeutsche Fassung: Theodor Creizenach, »Süsskind von Trimberg, der jüdische Minnesinger«. In: Frankfurter Museum 1, Nr. 11 vom 15.12.1855, S. 83–85) abgedruckt in: Gerhardt, 1997, S. 193 f.

49 Dieses von Yoseif ben Ephraim Karo (1488–1575) 1565 zusammengestellte Regelbuch wurde seinerseits im Lauf des 19. Jahrhunderts als eine Art Hausbuch der Juden durch das Kizur Schulchan Aruch ergänzt – besser gesagt: verdrängt –, einer gekürzten Fassung des von dem ungarischen Rabbi Shelomo Ganzfried (1804–1866) kompilierten Buches.

50 Zu einer jeweils kurzen Geschichte der verschiedenen beteiligten Gelehrten und als Dokumentation des letztlich erfolgreichen Bemühens, in Zürich eine Gedenktafel für Rabbi Mosche anzubringen, siehe Erich A. Hausmann, »Ein Denkmal für Rabbi Mosche von Zürich«. In: Die Jüdische Zeitung, Nr. 8, vom 23. Februar 1990 sowie »Besuch bei R. Mosche von Zürich«. In: Jubiläumsbuch des jüdischen Schulvereins Zürich (1995), S. 65–73. Ein eingehenderer Bericht über Rabbi Mosche findet sich in: Jizchak S. Lange, »Zur rechtlichen Stellung des jüdischen Lehrens in Zürich vor 600 Jahren«. In: 25 Jahre Jüdische Schule Zürich: Festschrift (Jerusalem: Koren Publishers, 1980), S. 108–122.

51 Hausmann 1990.
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