Laure Wyss
«Laure Wyss erfindet nicht, sie sucht die Realität. Radikal: so dass es weh tut. Dann besteht die Chance, dass Neues anfängt. Die Feststellung, da sei kein Trost, kann Rettung bedeuten. Nichts soll vernebelt, verdrängt, vorgegaukelt, inszeniert werden. Auf die nackte Existenz wird zurückgegangen.» Beatrice von Matt
Laure Wyss ist am 20. Juni 1913 in Biel/Bienne geboren und dort in die Schule gegangen. Nach der Matura (1932) Sprachstudium in Paris, Zürich, Berlin. Abschluss in Zürich, Lehrerinnenpatent für Deutsch und Französisch, Heirat. Die Kriegsjahre erlebt sie in Schweden und Davos. Sie übersetzt für den «Evangelischen Verlag», auf Anregung des Leiters Arthur Frey aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen Widerstandsschriften der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht.
1945 Scheidung und fortan in Zürich wohnhaft. 1946 –1948 Redaktorin beim «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». 1949 Geburt eines ausserehelichen Kindes und freie Journalistin. 1950—1962 als Redaktorin beim «Luzerner Tagblatt»; 1958—1967 Redaktorin beim Schweizer Fernsehen. Sie gestaltet das erste Programm für Frauen, später die Diskussionssendung «Unter uns». 1962 tritt Laure Wyss in die Redaktion des «Tages-Anzeigers» ein. 1970 Mitbegründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Seit ihrer Pensionierung 1976 als Schriftstellerin und freie Journalistin für Zeitungen und Radio tätig. Für ihre literarische Arbeit wird sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Werkjahr der Max-Frisch-Stiftung, dem Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und der Goldenen Ehrenmedaille des Kantons Zürich. Laure Wyss starb am 21. August 2002 in Zürich.
Zur Biografie von Laure Wyss siehe auch:
Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten
Ernst Buchmüller: Laure Wyss. Ein Schreibleben, DVD
Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin
Bibliographie
Frauen erzählen ihr Leben
14 Protokolle. Huber, Frauenfeld, 1976;
Taschenbuchausgabe: An einem Ort muss man anfangen. Frauen-Protokolle aus der Schweiz. Luchterhand, Darmstadt/Neuwied, (SL 355), 1981, vergriffen
Mutters Geburtstag
Notizen zu einer Reise und Nachdenken über A. Ein Bericht. Huber, Frauenfeld, 1978;
Taschenbuchausgabe: Luchterhand, Darmstadt/Neuwied, (SL 340), 1981, vergriffen.
Neuauflage: Limmat, Zürich, 1990, 1995
Ein schwebendes Verfahren
Mutmassungen über die Hintergründe einer Familientragödie. Kindler, München, 1981;
Taschenbuchausgabe: Fischer Taschenbuch, Frankfurt, (fibü 3526), 1982, vergriffen
Das rote Haus
Roman. Huber, Frauenfeld, 1982.
Neuauflage: Limmat, Zürich, 1992
Tag der Verlorenheit
Erzählungen.
Huber, Frauenfeld, 1984, vergriffen
Liebe Livia
Veras Tagebuch von Januar bis Dezember.
Limmat, Zürich, 1985, vergriffen
Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht
Journalistische Texte. Herausgegeben von Elisabeth Fröhlich
Limmat, Zürich, 1987
Das blaue Kleid
und andere Geschichten
Limmat, Zürich, 1989, vergriffen
Lascar
Gedichte
Limmat, Zürich, 1994
Weggehen ehe das Meer zufriert
Fragmente zu Königin Christina von Schweden
Limmat, Zürich, 1994
Briefe nach Feuerland
Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa
Limmat, Zürich, 1997
Rascal
Gedichte
Limmat, Zürich, 1999
Schuhwerk im Kopf
und andere Geschichten
Limmat, Zürich, 2000
Protokoll einer Stunde über das Alter
Moritz Leuenberger im Gespräch mit Laure Wyss
Limmat, Zürich, 2002, vergriffen
Wahrnehmungen
Herausgegeben von Tobias Kaestli und Hans Baumann
Limmat, Zürich, 2001
Beiträge (Auswahl)
Biografische Notiz
in: Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin
Herausgegeben von Corina Caduff
Mit Beiträgen u.a. von Gret Haller, Beatrice von Matt, Lothar Baier, Hugo Loetscher.
Limmat, Zürich, 1996
Martha Farner: Alles und jedes hatte seinen Wert.
Vorwort von Laure Wyss
Limmat, Zürich, 1986
Fabrikbesichtigungen
Reportagen von Monique Laederach, Al Imfeld, Laure Wyss, Alberto Nessi, Gaston Cherpillod, Isolde Schaad, Mario Macias, Res Strehle, Alexander J. Seiler, Beat Sterchi, Niklaus Meienberg
Limmat, Zürich, 1986
Marcel Lévy: Das Leben und ich
Eine Erinnerung an Marcel Lévy von Laure Wyss
Limmat, Zürich, 1996
Nachruf von Adolf Muschg
Flaschenpost für Laure Wyss (1913–2002)
Nicht jetzt. Und doch
Die WochenZeitung, 29. August 2002
Wir glaubten dir das Sterben ausgeredet zu haben. Es musste ja vielleicht einmal sein, aber nicht grade jetzt. Da konnte sie wiehern. Lach nicht so laut, sagte meine Frau, die du deine kleine Schwester nanntest, und du lachtest noch lauter. Natürlich stirbt eine, die man so lachen hört, nicht jetzt. Und um dich herum wurde jede Zeit zur Jetztzeit, auch die abscheulichste, und von diesem Stoff hatte das neue Jahrhundert jeden Tag etwas zu bieten. Dann konntest du sprachlos werden, wie gelähmt wirken oder abwesend; das blieb deine Art, voll da zu sein. Tod in Afghanistan war für dich nicht weiter weg als Tod in New York. Und weil der eine Tod am andern nichts gut, auch nur erträglich machte, gingen sie dir gleich nahe, Und sie traten dir nahe; sie empörten dich und entwaffneten dich zugleich. Denn gegen bodenlose Trauer halfen keine Waffen.
Mit dem eigenen Tod aber kokettiertest du in den letzten Jahren nicht ungern. Nicht weniger ungern hörtest du unsern Protest. Gegen so viel Dasein, hofften wir, habe er noch lange nichts zu bestellen.
Auf der heutigen Titelseite hat dich die NZZ 98 werden lassen. Nein, wen die Götter lieben, der stirbt jünger. Ich höre dich wiehern, leider von zu weit weg. Als wir heute in der Aufbahrungshalle von dir Abschied nahmen, sahen wir: Etwas kleiner hat dich der Tod gekriegt. Aber niemand hat dir den Mund zugebunden. Das stimmte.
Als du sicher warst, dass der Tod nicht mehr mit sich spielen liess, bist du ihm unzweideutig, mit der dir eigenen Klarheit entgegengegangen. Das Beste hat er nehmen können, deine Gegenwart, aber das Stärkste hat er dalassen müssen, deine Waffen, die Sprache. Sie hilft nicht gegen den Tod, auch diesmal nicht, aber sie setzt ihn dem Leben aus und sorgt dafür, dass es, auch wo es Ohnmacht empfindet, nicht in Ohnmacht fällt, vor keiner Gewalt.
«Bleib erschütterbar und widersteh» heisst ein Titel Peter Rühmkorfs. Kein Schlusswort für dein Leben, aber keine unpassende Gesamtüberschrift. Die Bieler Bürgerstochter als Pasionaria; dieser Mischung hast du nie getraut. Darin zeigte sich dein Format. An dieses hast du lieber nicht geglaubt. Du hast es vorgezogen, das jeweils Selbstverständliche, das es zu tun gab, als Glück zu empfinden; dass es schwer zu machen war, fandest du ebenfalls selbstverständlich. Eine professionelle Lebenshypothese; eine grosse menschliche Vorsicht. Den Unmut hast du dir von ihr nicht abkaufen lassen; aber den Mut noch weniger. Zaghaft habe ich dich nur in einem Punkt erlebt, allerdings einem für dich zentralen: Warst du eigentlich eine Schriftstellerin?
Was «schreiben» hiesse, ist dir früh aufgegangen, an zwei Orten: den Zerstörungen des Weltkriegs, die dich sprachlos machten; und beim Aufbau deiner Artikel und Reportagen, wo dir die Sprache nicht fehlen durfte. Darin steckte ein Widerspruch, den du nie glatt zurechtbügeln konntest. Darum darf ich dich nicht so einfach «Publizistin» nennen oder «Journalistin», obwohl du, weiss Gott, für die Anerkennung dieser Berufe gekämpft hast. Aber du warst nie eine «-istin», dazu fehlte etwas, oder etwas war zu viel. Dafür suchtest du kein Alibi, aber es schien dir auch nicht ganz zu reichen, dass du keines nötig hattest, niemand weniger – deine Empörung über die Benachteiligung von Frauen war begründet und unerschöpflich, sie war nicht von Programm oder Ideologie genährt, sondern von deinem Alltag als berufstätige und allein erziehende Frau. Doppelt anspruchsvoll, wie dich Notlagen machten, warst du nie sicher, ob es dir zum «Schreiben» auch reichte.
Und diese Unsicherheit war das Persönlichste an dir, weil sie nicht nur persönlich begründet war. Als junge Frau in Schweden hast du Kampfschriften aus dem besetzten Dänemark und Norwegen übersetzt, in ein Deutsch, das mit der Sprache der Besetzer nichts gemein haben durfte. Nach 1945 sind dir die Trümmer Warschaus, der Trümmerhaufen Europa durch die Augen in Fleisch und Blut übergegangen; anders als deinem Generationsgenossen Max Frisch haben sie dir die Sprache verschlagen. Darauf als Schriftstellerin zu reagieren, wäre dir wie der reine Mutwille vorgekommen. Aber die Schwäche dafür hast du dir nicht nehmen lassen, und was du dir stattdessen zugemutet hast, blieb davon eingefärbt. Es hat deiner Arbeit am Fernsehen und in der Zeitung, besonders deinem unvergesslichen «TA-Magazin» der ersten Jahre, jene Farbe, jene eigenartige Kraft gegeben, die immer etwas mehr und etwas weniger war als professionell und eben darum nie daneben. Es gab doch ein Leben nach 1968, und für viele hatte es dein Gesicht.
Die Quelle dieser Kraft blieb verschwiegen, bis man dich – das erlaubtest du dir erst im Pensionsalter – als Schriftstellerin kennen lernen durfte. Oder vielmehr: du dich selbst, findig, fantasievoll, rückhaltlos. Deine Bücher waren eine fortgesetzte passionierte Recherche in das Reich des Zwiespalts von Erschütterbarkeit und Widerstand. Nichts und alles daran war persönlich, und endlich durftest du es dir zu Eigen machen. Ob du das Gitter um eine junge Schweizer Strafgefangene gezeichnet hast oder dasjenige um eine vergangene Schwedenkönigin; es war zugleich das Fadenkreuz in deinem nur mit Genauigkeit und Vorstellungskraft bewaffneten Auge. Und immer war mit der Grenze der Freiheit zusammen ein neuer Schritt der Befreiung zu lesen. Die Geschichte der Sieger interessierte dich nur so weit, als sie leider auch die Geschichte der Besiegten ist. Und es wäre noch schöner gewesen, wenn du dir selbst dabei hättest trauen dürfen. Dann hätte der Geschichte die eigentliche Spannung gefehlt: diejenige zum Offengebliebenen deines eigenen Lebens.
Aber du hast es dir und den LeserInnen unbeugsam offen gehalten, in immer neuen Anläufen gegen jede Versuchung zur Selbstsicherheit. Getraut hast du dich allerhand – und darum war es dann noch schöner, als du dir selbst zu trauen anfingst, vorsichtig, uneitel, humorvoll. Es war, glaube ich, wirklich das Schönste deiner letzten Lebensjahre, der Schriftstellerjahre einer immer neu Anfangenden, dass ihre Jugendlichkeit nicht zu spät kam, dass deine Schwäche von denen, die daran nur die Stärke empfanden und eigenen Mut daraus schöpften, gewürdigt und auch gefeiert wurde. Du hast deine Sprache gefunden und sie dich. Nicht dass dir dabei das Lachen über dieses glückliche Zusammentreffen vergangen wäre. Aber die Anerkennung: Jetzt durfte sie endlich sein, auch für dich. An dem, was du in deinem Leben für viele andere, Freundlnnen, LeserInnen erworben hast, war nichts Saures mehr. Du bist angekommen, Laure.
Also müssen wir dich jetzt auch gehen lassen. Ich wünsche uns nur etwas von deiner Kraft dazu. Wenn dich einer die Mutter Courage der Schweizer Literatur genannt hätte: Den hättest du schön ausgewiehert. Es hätte dir schon gereicht, keine Tante geworden zu sein. Dabei blieben wir (nur den Jahren nach) Jüngeren noch so gern deine Nichten und Neffen, nur: Da hängt jetzt eine schwer anzutretende Erbschaft dran. Geschenkt, hörte ich dich sagen. Als ob du etwas jemals selbst geschenkt genommen hättest! Doch, das Wichtigste im Leben schon, auch wenns nicht immer leicht fiel: Freundschaft. Die hängt jetzt schon sehr an dir. Nimm bitte nicht alles davon mit ins Grab. Etwas, verdammt noch mal, werdet ihr auch noch selbst tun können, höre ich dich sagen.
Danke, Laure.
Adolf Muschg
Nachruf von Hugo Loetscher
Laure Wyss (1913–2002)
Weltwoche, 29. August 2002Sich behaupten – dafür war sie in Lebenshaltung und im Schreiben Beispiel bis zum Vorbild. Umso überraschender, wenn man, wie dies Vertrautere erlebten, ihre Selbstzweifel kannte. Aber das Sichinfragestellen schärfte die Fähigkeit, Fragen an die Gesellschaft zu stellen; sie war nicht jemand, der die Antworten schon vor dem Fragen kannte. Sie konnte in ihrer Klarheit unerbittlich sein und zügelte ihre Radikalität mit Humor und Ironie.
Um sich zu behaupten, gab es persönlichen und gesellschaftlichen Anlass genug. Allein erziehende Mutter passte nicht ins bürgerliche Bild. Bezeichnend, dass sie sich nicht aufs private Problem versteifte, sondern dies ausweitete auf solche, welche sich auf ihre Weise am Rand fanden – ob sie eine Terroristin im Gefängnis besuchte oder dank Dokumenten «Mutmassungen über eine Familientragödie» darlegte. Und die Erfahrung, die sie als Journalistin und Redaktorin in einer männerdominierten Medienwelt machte, spiegelte sich in ihren Protokollen «Frauen erzählen ihr Leben». Sie wurde zur Avantgardistin und Grand Old Lady der Frauenliteratur, weil sie vom Erleben herkam und nicht von irgendwelcher Ideologie oder einem feministischen Seminar. Ihre Prosa hatte Boden und gewann damit an Kopf und Seele.
Erneut hatte sie sich zu behaupten, als nach ihrer Pensionierung an Stelle des journalistischen Schaffens immer mehr das literarische trat, was der belletristischen Zunft nicht unbedingt behagte. Mi dieser zweiten Karriere wurde sie erneut Vorbild, diesmal für ein kreatives Alter: Achtzigjährig, schrieb sie neben Erzählungen und Lyrik noch «Weggehen ehe das Meer zufriert». Mit Büchern wie diesen Fragmenten zur Königin Christina von Schweden erlangte Laure Wyss einen Platz in der Literatur. Daneben kann vieles, was sich heute literarisch gibt, nicht bestehen. Laure Wyss ist am 21. August, 89-jährig, gestorben.
Hugo Loetscher
Nachruf von Isolde Schaad
Schreiben, was wahr ist
Huldigung vom äusseren Rande der Biografie
Tages-Anzeiger, 23. August 2002
Liebe Laure, Du hast es lange ausgehalten, zuletzt mit einem Stock und einem Schalk, bis in ein neues Jahrhundert, das als Jahrtausend anfing und noch nicht wusste, wohin mit sich und der Welt, die an einem Tag im September zurückfiel in zwei alte biblische Stammesfehden. Wenn ich so grossartig rede, wirst Du abwinken im Grab und sagen, nichts da, machs kurz und bündig. Grosse Worte klangen Dir so verdächtig im Ohr, wie die einfachen im Ohr wie die einfachen Wörter Dir teuer sind. In der Freiheit des Alters funkelnd, pur und schlicht im Gedicht. Du hast nur brauchbare Wörter geduldet, bei Dir und bei andern.
Nun will ich eben hoch hinaus mit Dir, Mutter Courage einer Generation von Berufsfrauen und Lohnschreiberinnen, die zur Zeit, da Du das «Tages-Anzeiger-Magazin» mitbegründet hast, zwischen Mannkindberuf sassen und heulten. Steht auf, nehmt die Schreibmaschine, geht hin und recherchiert, das war Dein lapidares journalistisches Credo, und wir wussten noch nicht, was für ein Mut und eine Kraft darin steckten. Du hast uns auf grimmige Art zu fördern gewusst, die es an mütterlichem Wohlwollen nicht mangeln liess, wenn das Werk ehrlich und gut war. Es war nicht leicht, an Deine unverblümte Autorität heranzukommen, Deine Integrität hat sich lieber in Schweigen gehüllt, als ein falsches Wort oder ein dummes Lob zu spenden. Dein langes autonomes Leben in vielen Ländern der Geistesgeografie hat von anfang an so gedacht zuhanden der allein erziehenden Mütter, der Frauen im Knast, der Autorinnen im Patriarchat, der Feministinnen der zweiten Runde, mit dem Stimmzettel und dem Abwaschbesen in der Hand. Was wir damals noch nicht wussten: Du warst eine souveräne Alleingängerin und hast im Grunde genommen niemanden gebraucht, Du hast den kulturellen Reichtum einer Passantin und einer Europäerin der ersten Stunde in Dir gehabt, die Du jenseits der Freundschaft mit allen und niemandem geteilt hast.
Bitte keine Tränen am Schürzenzipfel der Emanzipation, sagte Deine Stattlichkeit hinter dem Pult, wenn man in die Redaktion trat und Deine Gunst zu erwerben suchte. Schreiben, was wahr ist, und das mit Überzeugung, ohne jede Konzession und Anbiederung an eine Literatur, die das Handtäschchen und den Salon mit sich führt. Das fügten dann Deine Haltung, Dein Format bei, wenn Du dich erhobst und immer grösser Warst als alle andern im Raum, in jeder Hinsicht und Bedeutung des Wortes. Schreiben, wie Dir der Kopf gewachssen ist, und mit den ganzen Augen von links bis rechts. Um zu erkennen und nennen, was ist und was nicht ist in dieser besten aller westlichen Welten, die sich Demokratie nennt. Basta, verstanden? Verstanden. Tragt gute Schuhe, nehmt den Brotsack und Personalausweis mit, wenn ihr den vorzeigen müsst, dann seid ihr im richtigen Auskunftsgelände.
Liebe Laure, natürlich hast Du das nicht so gesagt, Du hast es so überzeugend gedacht, dass man es sehen konnte. Wenn ich sage, Du warst die letzte Generalistin des Metiers, die keine Humanistin sein wollte, sondern eine Aufständische, eine Radikale des zivilen Ungehorsams, so ist das eine Huldigung, die ich hauche, denn wieder wirst Du abwinken und wettern, sei nicht so laut, der Feind hört mit. Du hast viel verlangt von uns, wenn Du eine von uns wirklich zur Nachfolgerin wolltest, das meiste war Schmonzens für Dich, wenn es nicht aus der Leidensform der Erfahrung kam. Frauensolidarität? Sie war anwesend, stark und wortlos, sie hiess Gebrauchswert. Schon der Begriff Feminismus war Dir zu pompös. Der Einsatz am unteren Ende des Wohlstandsgebäudes, eine lebensharte Sache, die keiner Theorie bedurft hat. Ein Erzählen auf dem Grunde des Elends will keinen Namen, es will Verstehen – was mehr ist als Verständnis. Das hat uns Deine Arbeit, die nun ein Werk ist, ein Leben lang mitgeteilt ... Die Bürde der Profession, mit der ganzen verhaltenen Bitterkeit der Alleinkämpferin im Patriarchat, dachte ich damals. Was ich dachte, leuchtet nun am Ende eines Jahrhunderts, das Du erhobenen Hauptes durchschritten hast. Es leuchtet mir heim, in seinem furchtlosen Mut und seinem, fast möchte ich sagen, ruchlosen Menschenverstand.
Es gilt die Gescheiten von den Intellektuellen von den Viel- und Besserwisserinnen zu trennen, das war ein Urteilskriterium Deines überaus gewieften, gewappneten sozialen Instinktes, mit dem Du Deinen Beruf ausgeübt hast, und Dein Beruf war, das Unrecht beim Namen zu nennen (das Unrecht, nicht das Programm der Bekämpfung). Ich meide vor Dir, die Du ein Gesicht hattest, das Du niemals verlorst, ein bis zum Letzten unresigniertes, schönes und starkes Gesicht, Wörter wie soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz, ich erspare Dir diese schmucken Inflationen, die vor dem einzigen und ungeteilten Wollen Deiner Sprache wie Werbeformeln in die Knie gehen: zu sagen, was Sache des Menschen ist.
Isolde Schaad
Der Verlag zum Tod von Laure Wyss
Radikalität und Leidenschaft
Der Verlag hat mehr als eine Autorin verloren.
Wir werden sie vermissen.
Noch vor einem halben Jahr kam sie zur letzten «Limmat Runde», unsere Verlagsversammlung mit Autorinnen, Vertretern und Aktionären, um mit uns über die Entwicklung im Verlagswesen und im Buchhandel zu diskutieren. Das ist typisch für ihre Anteilnahme am Schicksal von Büchern und an den Geschicken ihres Verlags.«Wie gehts euch?», fragte sie zu Beginn eines jeden Telefongesprächs. Ober sie lobte ein Buch, das wir gerade herausgegeben hatten, tadelte eins, das ihr nicht gefiel. Später erkundigte sie sich nach dem Stand: Wie sind die Verkäufe, die Rezensionen? Immer mit Leidenschaft für das Medium Buch, voller aufklärerischem Optimismus, dass von guten Büchern Gutes ausgeht. «Neotopia», das diesen Juni erschienen ist, bestellte sie immer wieder nach, um es zu verschenken, unter die Leute zu bringen. Ihr Schwung, ihre Begeisterung war ansteckend.
Sie forderte den Verlag auch immer wieder. Was muss man tun, um einem Buch zu helfen? Was könnten wir oder müssten wir tun? Für ihre eigenen wie für die der anderen dachte sie mit, regte an. Auf eine kluge und unaufdringliche wurde sie eine Art inoffizielle Autorensprecherin, eine Stimme der Autoren.
Immer hellwach, begegnete sie allem mit grossem Interesse und lebendiger Neugier. Als vor zwei Jahren die französische Übersetzung ihres Buches über die Königin Christina von Schweden, «Weggehen ehe das Meer zufriert» an der Genfer Buchmesse präsentiert wurde, war sie im Nu nach allen Seiten in Diskussionen mit ihren welschen Kollegen verstrickt. Und bis zuletzt konnte sie sich herrlich aufregen und über unerfreuliche politische Entwicklungen oder schlechten Journalismus schimpfen.
Bis zuletzt hat sie an ihrem erklärtermassen «letzten» Buch geschrieben: «Wahrnehmungen». Erinnerungen an Menschen, die ihr haften geblieben sind. Sie arbeitete mit gewohnter Radikalität, um Wahrhaftigkeit bemüht und um das richtige Wort. Das richtige Wort war ihr sehr wichtig.
Sie hat es oft gefunden, auch für uns.
Zürich, 22. August 2002, Der Verlag