Walter Gross
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Walter Gross

«Sie haben da ein bedeutendes Werk geschaffen – ich glaube, sie können nicht anders.» Carl Jakob Burckhardt
Walter Gross (1924–1999), Sohn eines Fabrikarbeiters und gelernter Buchbinder, stirbt 1999 in Winterthur, ziemlich vergessen. Sein zweiter und letzter Gedichtband war 1964 im Piper Verlag erschienen, an den ihn Ingeborg Bachmann vermittelt hatte. Danach ist er für mehr als dreissig Jahre verstummt – durch die Wälder streifend, Robert Walser ähnlich.

Der Sohn eines Fabrikarbeiters und gelernte Buchbinder war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Schweizer Lyriker, seine Gedichte in allen wichtigen Anthologien vertreten. Und trotz der Distanz eines halben Jahrhunderts sind sie von erstaunlicher Gegenwart.

Hinterlassen hat er auch einen faszinierenden Briefwechsel: mit Johannes Bobrowski, Werner Weber, C.J. Burckhardt, Hans Boesch, Jörg Steiner, Kurt Marti, Rainer Brambach Cyrus Atabay u.v.a. Die Briefe sind von literarischer Qualität, aus ihnen spricht eine grosse Begabung zur Freundschaft, aber sie sind auch ein erschütterndes Dokument der Krisen von Walter Gross, die schliesslich ins Verstummen mündeten.

«Winterthurer, gelernter Buchbinder, Autodidakt; bestimmender Exponent neuen helvetischen Poesieempfindens in den fünfziger Jahren; erste Auftritte in Hiltys 1950 lancierter Zweimonatsschrift ‹hortulus›; Freundschaft mit Peter Huchel und Johannes Bobrowski, denen er seinen Hang zu archaischer Bildlichkeit dankt; zwei schmale Versammlungen, die ihn spontan zur Instanz werden liessen, zu einer Art Orientierungshilfe in der sich mählich zurechtwühlenden deutschen Nachkriegslyrik. Wo ist er geblieben, der Autor der bis zum heutigen Tag so wesentlichen (vergriffenen) Bändchen? Wo ist Walter Gross?

Seit zwanzig Jahren nicht das kargste poetische Lebenszeichen – ein in unserer Literaturbetriebsamkeit höchst ungewöhnlicher Vorfall! Schöpferisches Pausieren? Athemholen über zwei Jahrzehnte hinweg? Kapitulation der harsche Verweigerung, die sich schon immer trotzig in Aussicht stellte? (...)

Vermisst und gesucht: Ein Poet, dessen Programm sich noch und noch erfüllt und jahrzehntelang als wetterfest erweist; ein Abhandengekommener, dessen ehmals getarnte Manifeste zusehends spruchreifer werden und nach Neudruck ausschauen. Wanted? Ein notwendiger Dichter.» Dieter Fringeli, 1984

 

Selbständige Veröffentlichungen


Friedhof bei San Michele a Ripaldi. Florenz, Ematal. Winterthur 1950

Die Taube, Gedicht, Borgis-Verlag, Sins/ag 1956

Botschaften noch im Staub. Gedichte. Heinrich Ellermann Verlag, Hamburg/München 1957.

Botschaften noch im Staub. Gedichte. Vogel, Winterthur 1999. Nachdruck mit Genehmigung des Autors der Ausgabe im Verlag Heinrich Ellermann, 1957. Hrsg. aus Anlass seines 75. Geburtstages am 12. Oktober 1999 von seinen Freunden. Nachwort von Serge Ehrensperger

Antworten. Gedichte. R. Piper Verlag, München 1964

Botschaften. Ein Gedicht von Walter Gross. Schwarzhand-Presse. Flaach 1993.

 

Beiträge in Anthologien

Das Gedicht. Jahrbuch zeitgenössischer Lyrik. Hg. von Rudolf Ibel. Christian Wegner Verlag, Hamburg, dritte Folge 1956/57, fünfte Folge 1958/59

Sieben mal sieben. Gedichte. Fretz & Wasmuth Verlag, Zürich 1955

Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Hg. von Walter Höllerer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1956

Jahresring. Jahrbuch für moderne Kunst. Hg. im Auftrag des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im bdi e.V., Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1957/58

ensemble. Ein Schweizer Beitrag zur zeitgenössischen Lyrik. Hg. von Peter Lehner unter Mitwirkung von Hans Rudolf Hilty und Andri Peer. Benteli Verlag, Bern 1958

Expeditionen. Deutsche Lyrik seit 1945. Hg. von Wolfgang Weyrauch. List Verlag, München 1959

Literaturkalender. Ein Querschnitt durch das Literaturschaffen der Gegenwart. Hartfried Voss Verlag, Ebenhausen 1959

Erklär mir, Liebe. Liebesgedichte deutscher Sprache seit 1945. Hg. von Hans-Rudolf Hilty und Walter Gross. Tschudy Verlag, St. Gallen 1959

Lyrische Kardiogramme. Liebesgedichte von heute. Hg. von Hartfried Voss. Voss Verlag, Ebenhausen b. München 1960

Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945. Hg. von Horst Bingel. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1961

Lyrik aus dieser Zeit 1961. Erste Folge. Hg. von Kurt Leonhard und Karl Schwedhelm. Bechtle Verlag, München 1961

Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945. Hg. von Hans Bender. Moderner Buch Club, Darmstadt 1961, Hanser Verlag, München 1962

documenta poetica. Hg. von Hans Rudolf Hilty, Kindler Verlag, München 1962

Europa heute. Prosa und Poesie seit 1945. Eine Anthologie. Hg. von Hermann Kesten. Kindler Verlag, München 1963

Texte. Prosa junger Schweizer Autoren. Hg. von Hugo Leber. Benziger Verlag, Einsiedeln/Zürich/Köln 1964

Lunapark und Alexanderplatz. Berlin in Poesie und Prosa. Hg. von Bruno E. Werner und Ortrud Reichel. Piper Verlag, München 1964

Neue deutsche Erzählgedichte. Hg. von Heinz Piontek. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1964

Deutsche Teilung. Ein Lyrik-Lesebuch. Hg. von Kurt Morawietz, mit einem Nachwort von Reimar Lenz. Limes Verlag, Wiesbaden 1966

Personen. Lyrische Porträts von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hg. von Dieter Hoffmann. Societätsverlag, Frankfurt/M. 1966

Von den Nachgeborenen. Dichtungen auf Bertolt Brecht. Hg. von Jürgen P. Wallmann. Vorwort von Johannes Poethen. Verlag Die Arche, Zürich 1970

Deutsche Gedichte von 1900 bis zur Gegenwart. Hg. von Fritz Pratz, Fischer-Bücherei, Frankfurt/M./Hamburg 1971

Wolf, Gerhard; Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski. Union Verlag, Berlin 1973

Lyrik aus der Schweiz. Hg. von Frank Geerk. Benziger Verlag, Zürich/Köln 1974

Der Ochse und das Harfenspiel, Fabeln aus aller Welt. Hg. von Ingrid und Klaus-Dieter Sommer. Verlag Neues Leben Berlin, 1974

Ahornallee 26 oder Epitaph für Bobrowski. Hg. und mit einer Nachbemerkung von Gerhard Rostin. Union Verlag, Berlin (ddr) 1977

Schweizer Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Gedichte aus 4 Sprachregionen. Hg. von Bernd Jentzsch. (Verantwortlich für den rätoromanischen Teil: Andri Peer, den italienischsprachigen Teil: Giovanni Orelli, den französischsprachigen Teil: Bertil Galland. Benziger Verlag, Zürich/Köln 1977

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Deportation und Vernichtung in poetischen Zeugnissen. Hg. von Bernd Jentzsch. Kindler Verlag, München 1979

Belege. Gedichte aus der deutschsprachigen Schweiz seit 1900. Ausgewählt vom Zürcher Seminar für Literaturkritik mit Werner Weber. Artemis Verlag, Zürich/München 1978

Moderne deutsche Naturlyrik. Hg. von Edgar Marsch. Reclam Verlag, Stuttgart 1980

Moderne deutsche Liebesgedichte von Stefan George bis zur Gegenwart. Hg. von Rainer Brambach. Diogenes Verlag, Zürich 1980.

Ich kehr zurück im Morgengrauen. Erzählungen aus der Schweiz. Hg. von Jörg Hildebrandt. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1984

Welches Tier gehört zu dir? Eine poetische Arche Noah. Errichtet von Peter Hamm. dtv, München 1984

Johannes Bobrowski: Meine liebsten Gedichte. Eine Auswahl deutscher Lyrik von Martin Luther bis Christoph Meckel. Hg. von Eberhard Haufe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1985

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn. Italien im deutschen Gedicht. Hg. von Peter Hamm. Insel Verlag, Frankfurt/M. 1987

Die skeptische Landschaft. Deutschsprachige Lyrik aus der Schweiz seit 1900. Hg. von Klaus-Dieter Schult. Reclam Verlag, Leipzig 1988

Lese-Zeit. Literatur aus der Schweiz. Hg. von Egon Ammann und Urs Bugmann. Ammann Verlag, Zürich 1988

Walter Gross im Limmat Verlag

Werke und Briefe

Werke und Briefe

Walter Gross

Über mich selbst

Von mir sind keine Manifeste zu erwarten. Sie zu schreiben, über sie zu sprechen, hat keinen Sinn. Sie sind in genügender Zahl vorhanden. Es ist Zeit, sie zu erfüllen mit dem, was man schreibt, sie im Geschriebenen zu verstecken. Das vor allem: Anklage und Trost sind zwischen den Zeilen stark. Nicht anderswo. Hinzu kommt: listig gegenüber Zensur und Zensuren zu sein gehört mehr und mehr für den Schreibenden zur täglichen Übung. Ich bin 41 Jahre alt, aber noch nicht alt genug und werde es wohl nie werden, um gegenüber dem Unheil und Unrecht gleichgültig zu sein. Das Älterwerden hilft offenbar hier nicht nur wenig, sondern nichts.

Sohn eines Arbeiters, eines Kesselschmiedes, möchte ich immer so schreiben, dass mein Vater mich versteht und jeder, den ich mit einem Werkzeug in der Hand antreffe.

Vor meinen ersten Schreibversuchen mit über zwanzig Jahren hatte ich schon einiges erlebt, war Ausläufer in einer Buchhandlung, Volontär im Zoologischen Institut einer Universität, macht eine Lehre als Buchbinder, war als solcher Arbeiter in verschiedenen Buchbindereien und dann drei Jahre lang Angestellter einer staatlichen Bibliothek.

Mein Bündel Gedichte wiegt leicht, zwei schmale Bände, um sechzig Gedicht, und schreibe ich das jetzt hin und überlege mir die Zahl, dann sind es wieder zuviel. Beinahe jedes aber liesse sich mit einem biographischen Fakt belegen, auch wenn das Gedicht oft erst Jahre danach dem Erlebnis geschrieben wurde. Einflüsse liessen auch bei mir sich nachweisen, da mache ich keine Ausnahme, zuweilen habe ich sie in den Widmungen zugegeben. Bei Brecht etwa, bei Pavese, Lorca. Das meiste ist indessen versteckt: Pound, Kavafis, mit dem erschütternden Gedichten zu seiner privaten Vita, Pavese, nochmals, dessen grosses Thema die Landnahme ist, Land, das er nie besass, Vittorini, überhaupt die Italiener: Ungaretti, Quasimodo, Pratolini, Pasolini, Levi. Es hat natürlich mit meiner Herkunft zu tun, wenn ich mich den einfachen Menschen verbunden fühle, mit ihnen solidarisch bin, ihnen, die unter der Not leiden, sich nicht oder doch nur ungenügend artikulieren zu können. Jenen Menschen, denen die Sprache kein selbstverständliches Ausdruckmittel ist. Übrigens: sich mit en einfachen Menschen solidarisch fühlen, das hat Albert Camus gesagt, in einem Gespräch mit Jean Bloch-Michel: «Morgen schon kann unsere Welt in tausend Stücke zerspringen. In dieser Drohung, die ständig über unseren Köpfen hängt, liegt eine Lehre der Wahrheit, angesichts dieser Zukunft werden alle Abstufungen, alle Titel und Ehren wieder zu dem, was sie sind: Schall und Rauch. Und als einzige Gewissheit bleibt uns der nackte, gemeinsame Schmerz, dessen Wurzeln sich mit den Wurzeln einer unverzagten Hoffnung mischen.» Welcher Hoffnung? Die Hoffnung auf ein glücklicheres Geschick für die Menschen auf diesem Planeten. Die Frage nach einem glücklicheren Geschick ist eine solche ersten Ranges. Es ist die Frage nach einer Heimat, die vor uns, in der Zukunft liegt. Ohne diese Frage im Herzen, nach einer ‹Zeit ohne Angst›, wie das der Freund Johannes Bobrowski einmal formuliert hat, ist nicht zu schreiben und nicht zu leben.

Es ist nicht von allen zu sprechen, denen ich viel verdanke, aber die Zeit, in der ich lebe, ist so beschaffen, dass viele Flüchtlinge, Verbannte und auch Ermordete darunter sind. Ich habe drum in meinen Gedichten immer wieder die angesprochenen Adressaten verborgen und oft gar nicht genannt. In meinen letzten Gedichtband ist eines Erich Mühsam gewidmet. Welches, das werde ich nicht sagen, dem Leser dieser Zeit sind solche Rätsel überantwortet. Ein anderer Name ist Joseph Roth, auch ein Flüchtling mit einem für diese Zeit signifikanten Tod – in einem Armenspital von Paris. Nicht, dass ich in allem mit ihm einer Meinung wäre, aber seine Trauer ist das Gemeinsame, eine solche, wie Manfred Bieler einmal sagte, zu der sich kein Adjektiv bilden lässt.

Ich habe ein paar Ehrungen erhalten, und mir ist bei den meisten von ihnen nicht geheuer, da sind Missverständnisse drin, sage ich mir, meine Person und das Geschriebene betreffend, aber ich hoffe, wie eine Zahl in gleicher Lage Befindlicher, dass meine Freunde eine bessere Meinung über mich haben als ich über mich selbst. Eine Ehrung hat mich gefreut: die Verleihung des Hugo Jacobi-Presses im Jahre 1964. Der Preis eines Flüchtlings an einen Gedichteschreiber. Er floh von Berlin nach Strassburg, und mit Strassburg fällt das Stichwort für einen anderen Namen: Georg Büchner. Und nochmals floh der Flüchtling Jacobi: nach Zürich. Und wiederum: vor ihm hat das Büchner tun müssen. Und beide sind in Zürich gestorben. Und das ist nicht weit von wo ich wohne: eine halbe Stunde Bahnfahrt.

Alle wissen, es ist kein Zufall, dass die Namen der Flüchtlinge, der Verbannten, der Ermordeten und jener, die sich einen andern Namen zulegen mussten, in dieser Zeit eine solche Bedeutung haben, daraus sind Lehrer zu ziehen, eher heute als morgen. Man hat mich gefragt, ob ich Wünsche habe. den auf eine glücklicheres Geschick für den Menschen in dieser Zeit und, wohlgemerkt, auf dieser Welt, habe ich schon vorgebracht. Andere Wünsche? Meine Prosa zu schreiben, das istt der Stein, gegen den ich mich stemme. Ein ordentliches Stück soll es sein. Diese Prosa nehme ich ernst wie meine Schwester oder meinen Feind. Ja, den Feind. Was hat Babel gesagt: «Ich hasse Dich, auf nichts anderes ist Dein Wunsch gerichtet als darauf, keine Feinde zu haben. Ich hasse Dich, weil Du keine Feinde haben willst.» Das muss zwischenhinein gesagt sein. Noch andere Wünsche? Vielleicht einmal die böhmischen Wälder zu sehen, Prag. Ein grosser Wunsch? Keinen Freund zu verlieren.