Vergessen & verkannt
Martin Imboden, Wilhelm Felber, Peter W Häberlin, Martin Glaus, Gerda Meyerhof, Doris Quarella, Hugo Jaeggi

Vergessen & verkannt

7 Fotografen aus der Sammlung der Fotostiftung Schweiz

Herausgegeben von Peter Pfrunder

80 Seiten, 50 Abb., Broschur, Fadenheftung, Duplexfotos
1., Aufl., Juni 2006
SFr. 34.–, 34.– €
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978-3-85791-512-3

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Schlagworte

Fotografie
     

Buch und Ausstellung 'vergessen & verkannt' bieten Einblick in 7 (Lebens-) Werke, die aus verschiedenen Gründen aus dem Raster der öffentlichen Wahrnehmung zu fallen drohen: Martin Imboden (1893–1935), Peter W. Häberlin (1912–1953), Wilhelm Felber (*1918), Gerda Meyerhof (*1914), Martin Glaus (*1927), Hugo Jaeggi (*1936) und Doris Quarella (1944–1998) geben sieben eigenständige und sensible Antworten auf die Frage: was ist der Mensch, was ist die Gesellschaft?
Gemeinsamer Nenner ist die intensive Beschäftigung mit der Darstellung des Menschen. Dabei prallen weit voneinander abweichende ästhetische Haltungen aufeinander: die schwärmerische Idealisierung nach dem Vorbild der Malerei kontrastiert mit der Sachlichkeit im Sinne der 'straight photography', der reportageartige Einbezug des Milieus reibt sich an einer soziologisch abgestützten Porträtserie. Die sieben Werke widerspiegeln auch die ideologischen und gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts.

Peter Pfrunder

Peter Pfrunder, geboren 1959 in Singapur, aufgewachsen in der Schweiz. Studierte Germanistik, Europäische Volksliteratur und englische Literatur in Zürich, Montpellier und Berlin. 1995 bis 1998 Co-Leiter des Forums der Schweizer Geschichte / Schweizerisches Landesmuseum, Schwyz. Seit 1998 Direktor und Kurator der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Lebt in Zug. Zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen zur Schweizer Fotografie, u. a. «Theo Frey, Fotografien», «Gotthard Schuh – Eine Art Verliebtheit», «Schweizer Fotobücher 1927 bis heute – Eine andere Geschichte der Fotografie».

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«Der Vergessenheit entreissen»

Der Druck ist gross. Kunstmuseen, Galerien und andere Ausstellungsorte sehen sich gezwungen, Entdeckungen zu machen, Trends und Innovationen aufzuspüren oder Stars zu produzieren – und dies in immer kürzeren Abständen. So sichert man sich die Aufmerksamkeit der Medien, des Publikums und der Sponsoren. Das gilt auch für die Fotografie, seit diese zu den festen Programmpunkten des Kunstbetriebs zählt. Eine paradoxe Situation: Da haben sich Fotografen und Kuratoren während Jahrzehnten darum bemüht, die Fotografie in die Kunsthäuser zu bringen, sie neben der Malerei und anderen künstlerischen Ausdrucksmitteln als gleichberechtigtes Medium zu etablieren. Doch jetzt, wo dieses Ziel erreicht ist, fragt man sich, was damit gewonnen wurde. Ist es nicht problematisch, wenn dieses Medium nun fast nur noch unter dem Blickwinkel der Kunsthaltigkeit betrachtet wird? Seit ihrer Erfindung hat die Fotografie stets viel breitere gesellschaftliche Funktionen erfüllt; sie ist Teil einer weit gefassten Kulturgeschichte des Bildes und der menschlichen Wahrnehmung, und sie verdient es, auch ausserhalb des Kunstdiskurses untersucht zu werden.

Die aktuelle Situation ist auch für eine Institution wie die Fotostiftung Schweiz eine Herausforderung. Aufgabe der „Stiftung für Photographie " (wie sie ursprünglich hiess) sei es, „bemerkenswerte und historisch bedeutsame Photographien der Vergessenheit zu entreissen" – so lautet die Formulierung in der Stiftungsurkunde von 1971. Aber warum begnügt man sich nicht damit, jeweils die wichtigsten zehn Bilder der besten Schweizer Fotografen aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenzutragen? Warum übernimmt die Fotostiftung Schweiz, parallel zu einer gezielt aufgebauten Sammlung von Einzelwerken und Werkgruppen, ganze Archive und Nachlässe? Es gibt dafür zwei Hauptgründe: Erstens liefern fotografische Archive den Rohstoff und den Zusammenhang, aus denen heraus die einzelnen, oft isoliert erscheinenden Werke zu verstehen sind. Neben Negativen und gültigen Vergrösserungen umfasst ein Archiv meist auch Vorstufen sowie zahlreiche Informationen zur Bearbeitung und Verwendung eines Bildes. Auf dieser Grundlage lässt sich sein Stellenwert innerhalb des Gesamtwerks, aber auch das generelle Weltbild und die Haltung eines Fotografen, einer Fotografin erschliessen – hinter dem Einzelbild erscheint das Profil eines gestaltenden und interpretierenden Autors. Zweitens liegt gerade in der Sperrigkeit und Vielschichtigkeit eines fotografischen Archivs auch sein Potential: gerade weil es von den Fotografen mit dem Ziel der technischen Reproduzierbarkeit angelegt wird, bietet es einen gewissen Spielraum für neue Interpretationen und Umwertungen. Die Geschichte der Fotografie zeigt, dass Bilder plötzlich neu gesehen, neu gelesen, neu bewertet werden können. Denn so, wie sich unsere Wahrnehmung der Welt im Lauf der Zeit verändert, verlagert sich auch unser Interesse an bestimmten Themen oder an der Art und Weise, wie diese dargestellt werden. Und was innerhalb eines einzelnen Archivs an kurzfristigen Umschichtungen und Umwertungen möglich ist – wenn etwa ein scheinbar nebensächliches und unbeachtetes Konvolut in den Vordergrund rückt –, das das kann auch mit ganzen Werken von Fotografen geschehen. Wer weiss schon, nach welchen Gesichtspunkten wir unsere Fotosammlungen in zehn, fünfzig oder hundert Jahren befragen und absuchen werden? Und wer wagt zu sagen, ob die „besten" Fotografen von heute auch morgen noch als die „besten" beurteilt werden?

Angesichts der Atemlosigkeit und Kurzlebigkeit des Kunst- und Kulturbetriebs laufen wir Gefahr, manche Dinge aus den Augen zu verlieren. Unterstützt durch das Internet und die fortschreitende Digitalisierung unseres Alltags, gilt die Aufmerksamkeit immer mehr dem totalen Präsens, dem Gewimmel von simultanen Ereignissen der aktuellen Weltsekunde – auf Kosten des historischen Bewusstseins. In dieser Situation versucht die Fotostiftung Schweiz, den Blick über den momentan vorherrschenden Wertekanon hinaus zu erweitern. Das Engagement für die Erhaltung von fotografischen Lebenswerken orientiert sich nicht allein an der Frage, ob es sich dabei um Kunst handelt. Die Kunst ist nur eines von verschiedenen möglichen Bezugssystemen. Ebenso wichtig ist die Frage, ob diese Werke eine eigenständige, individuelle, kohärente und zugleich für ihre Zeit aufschlussreiche Sicht auf die Welt darstellen, ob die Fotografen damit einen interessanten Beitrag zur Geschichte der sich verändernden Wahrnehmung leisten. SoDeshalb beschäftigt sich die Fotostiftung Schweiz also auch mit privaten und anonymen, unveröffentlichten oder kunstgeschichtlich epigonalen Werken, wenn diese historisch, ethnografisch, soziologisch oder mediengeschichtlich von Bedeutung sind. Zuweilen nimmt sie sogar Bestände auf, deren Relevanz heute überhaupt noch nicht erkennbar ist – aus einer unbestimmten Ahnung heraus, mit dem Gedanken an künftige Generationen. Dass dabei auch Intuition, Subjektivität und Zufälle eine Rolle spielen, ist nicht zu bestreiten.

Wie schnell es doch gehen kann, dass das Lebenswerk eines Fotografen, einer Fotografin in Vergessenheit gerät und nicht mehr gefragt ist! Verkannt wird ein solches Werk nicht nur, wenn es noch unerkannt, wenn es also noch zu entdecken und zu würdigen ist. Verkannt wird es auch, wenn es nicht mehr bekannt ist und folglich von einer breiten Öffentlichkeit ignoriert wird. Die Halbwertszeiten werden kürzer und kürzer. Zum Beispiel – und man mag darüber erschrecken – im Fall von Doris Quarella, einer Fotografin, die zu Lebzeiten durchaus Aufmerksamkeit genoss und 1978 an prominenter Stelle, in einer von Walter Binder organisierten Schau im Kunsthaus Zürich, ausgestellt wurde. In den achtziger Jahren war sie auch mit Büchern präsent. Doch schon in den neunziger Jahren, als die grossformatige Farbfotografie in die Kunstmuseen einzog, hatte ihr konzeptueller Ansatz mit schwarzweisser Porträtfotografie dort kaum mehr Platz. Schon wenige Jahre nach ihrem Tod 1998 muss man nüchtern feststellen, dass ihre Fotografien praktisch aus der Öffentlichkeit verschwunden sind; ihre Bücher kann man bestenfallsnur noch antiquarisch erwerben. Die kurze Zeit der Anerkennung und des Erfolgs steht dabei in einem bemerkenswerten Gegensatz zum Begriff des „Lebenswerks", der doch eine langjährige Kontinuität voraussetzt und, unabhängig von wechselnden Moden und Trends, eine Treue zu sich selbst beinhaltet.

Es gibt aber auch Fotografen, die gar nie im Rampenlicht standen und dieses sogar gemieden haben – Aussenseiter der Fotoszene, die aber vielleicht gerade dadurch eine eigene, persönliche Ausdrucksweise gefunden haben. Der Name Hugo Jaeggi mag sich da und dort noch eingeprägt haben, seine Porträts zum Beispiel haben in den achtziger Jahren Aufsehen erregt. Aber wer kennt Wilhelm Felber? Oder Martin Glaus? Oder Gerda Meyerhof? Jede Nachfrage bei einer jüngeren, fotointeressierten Generation stösst auf Unkenntnis – was nicht weiter erstaunt. Denn wo hätte man Gelegenheit gehabt, ihren Fotografien zu begegnen, ausser vielleicht in einer lokalen Galerie mit regionaler Ausstrahlung? Und doch verdienen es ihre Werke, erhalten und beachtet zu werden. Besonders wegen den sich verändernden Sichtweisen sollte man nicht nur nach der Avantgarde oder nach dem Mainstream, den Hauptströmungen schielen. Die kleinen Seitenflüsse, die Verästelungen links und rechts davon können ebenso wertvoll sein, wenn sie, wie die ausgewählten Beispiele, in hoher Qualität konsistente Interpretationen der Welt liefern – auch wenn es sich um die kleine Welt vor der eigenen Haustür handelt.

Peter Pfrunder
Schaffhauser Nachrichten, 6. Juni 2006
P.S., 8. Juni 2006
Neue Zürcher Zeitung, 13. Juni 2006
WochenZeitung WoZ, 15. Juni 2006
Radiomagazin, Nr. 22, 2006
Tagesanzeiger, 7. Juli 2006
Rundbrief Fotografie, 1/2007
Photo Technik International, Juli/August 2007

«Nicht nur eine Solidaritätsübung zu Gunsten Unterdrückter und Zu-kurz-Gekommener, sondern ganz nebenbei eine Übung zur Korrektur des Tunnelblicks, mit dem der so dominierende Markt mittlerweile auch die Fotografie ins Auge fasst.» Tages-Anzeiger

«So liegt hier eine faszinierende, wenn auch naturgemäss punktuelle Geschichte der Porträtfotografie vor, die von Martin Imbodens unergründlichen, dem Symbolismus der Jahrhundertwende verpflichteten Frauenfiguren bis zu Hugo Jaeggis tiefsinnigen, zwischen 1986 entstandenen Trudi-Bildern führt. Eine vielseitige, gut dokumentierte Publikation, in der sich auch die gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhundert spiegeln.» Neue Zürcher Zeitung

«Der vorliegende Katalog dokumentiert einfühlsam einen nicht unerheblichen Teil ‹des Schaffens im Schatten› eidgenössischer Fotografen und Fotografinnen, die nicht permanent im medialen Vordergrund standen – und leistet damit vorbildliche Arbeit.» Rundbrief Fotografie

Was ist der Mensch, was ist die Gesellschaft?

Die Bilder sind urheberrechtlich geschützt: Keine Verwendung irgendwelcher Art ohne Genehmigung des Verlags.

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Wilhelm Felber: Bei Sumiswald im Emmental, um 1938

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Peter W. Häberlin: Ohne Titel, um 1950

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Martin Glaus: Seebergseedorfet, 1958

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Martin Imboden: Ohne Titel, vor 1929

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Gerda Meyerhof: Ohne Titel, 1973

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Doris Quarella: Franz Indergand, Kaufmann, Flüelen, 1979

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Hugo Jaeggi: Aus der Serie «Trudi R.», 1986–2005

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