Zwischen Stall und Hotel
Daniela Kuhn

Zwischen Stall und Hotel

15 Lebensgeschichten aus Sils im Engadin

Mit Fotografien von Meinrad Schade

180 Seiten, gebunden, 49 Farbfotografien
Januar 2012
vergriffen
978-3-85791-654-0
     

Nietzsche, Rilke, Thomas Mann und zahlreiche weitere grosse Namen haben dem zwischen St.Moritz und dem Bergell gelegenen Dorf Sils i. E. / Segl und seiner Landschaft eine beinahe magische Ausstrahlung verliehen. Und noch heute begegnet sich während der Saison Prominenz aus aller Welt auf der Dorfstrasse. Doch wer sind die Silser? Der gelernte Hochbauzeichner bewirtschaftet den letzten Kuhstall im Dorf, die einstige Hotelbesitzerin hat als Kind mit Anne Frank gespielt, der ehemalige Pistenchef ist 840 Mal mit dem Kanadierschlitten ausgerückt: Fünfzehn Personen, die in Sils i.E. /Segl aufgewachsen sind und dort ihr Leben verbracht haben, erzählen Geschichten aus einem vergangenen Sils, erlauben einen untouristischen Blick hinter die Kulissen des Dorfes.

Daniela Kuhn

Daniela Kuhn, geboren 1969, publizierte als freie Journalistin in verschiedenen Printmedien mit thematischem Schwerpunkt Alter und Psychiatrie. Seit 2016 verfasst sie Auftragsbiografien und bietet Textcoachings an. Im Limmat Verlag sind von ihr bisher sieben Bücher erschienen.

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Meinrad Schade
© Limmat Verlag

Meinrad Schade

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Zeugen einer anderen Zeit

Hans Rominger

Rosa Giovanoli

Linard Godly

Adelina Kuhn

Attilio Bivetti

Fiorella Coretti

Gian Pol Godly

Tosca Nett

Oscar Felix

Rudolf Gilly

Maria Godly und Christina Godly

Ugo Bivetti

Ladina Kobler

Marco Fümm

Maria Dietrich und Urs Kienberger

 

 

Rosa Giovanoli

Die Autos und Motorräder fahren achtlos vorbei, nur das Postauto hält hier noch immer einen Moment an: Plaun da Lej, politisch zu Sils gehörend, liegt ziemlich genau zwischen Sils und Maloja. Die Häuser lassen sich an zwei Händen abzählen: ein Hotel mit Segelschule, ein Restaurant, zwei Privathäuser und zwei Ställe. Im einen der beiden Wohnhäuser leben seit mehr als einem halben Jahrhundert Rosa und Marco Giovanoli.

An einem regnerischen Junimorgen rufe ich Rosa Giovanoli an. «Ja, hüt Namittag isch guet», antwortet sie auf meinen spontanen Vorschlag, bereits in wenigen Stunden vorbeizukommen. Im Winter ist sie mir vom Postauto aus schon aufgefallen: Eine alte Frau in Haushaltsschoss, die vor ihrem Haus an der Sonne sass. Trotz den vorbeibrausenden Autos ein Bild der Ruhe. Als ich auf das Haus zugehe, erwartet mich Rosa Giovanoli auf dem kleinen Balkon. Ihre Augen sind blau. Und blau ist auch ihre Schürze und sogar der Stein an ihrem Ring. Gesicht und Hände sind von der Sonne gebräunt. Wie so viele Einheimische beklagt sie das anhaltend schlechte Wetter und bittet mich in die Küche.

Am Telefon hatte sie mich in einem von Bergaiot, dem Bergeller Dialekt, gefärbten Bündnerdeutsch gefragt, ob ich Italienisch spräche. «Wir probieren», hatte sie gemeint. Und nun fliesst es, unser Gespräch auf Schweizerdeutsch. «‹Hier gibt es immer etwas›, haben meine Eltern gesagt. Arbeit – hier gab es immer welche, während es im Bergell einfach nichts gab, womit man Geld verdienen konnte. Meine Eltern, Ricardo und Dorina Gianotti, kamen 1931 aus Stampa nach Capolago, Maloja. Unser Haus lag gleich hinter dem Restaurant Bellavista. Es war die grosse Krise, und mein Vater hatte im Bergell kein Auskommen mehr gehabt. Hier hatten wir sieben Stück Vieh, und mein Vater konnte verschiedene Arbeiten ausführen für die Gemeinde, etwa Bäume schneiden, Schnee schaufeln oder Strassen putzen. Meine Mutter machte den Stall. Im Bergell, in Montaccio, woher sie kam, pflanzten wir Kartoffeln. Nach dem Krieg wurde es langsam wieder besser. Im Garten in Soglio haben wir heute Härdöpfel, Randen, Zwiebeln, Rüebli und Lauch. Und sechs Äpfelbäume, von denen drei Äpfel tragen.

Ich wurde 1935 in Maloja geboren, nach meinem Bruder Antonio und meiner Schwester Lilina. Wir gingen in Maloja zur Schule. Nachher, 1952, war ich für sieben Monate in Zürich bei einer Familie mit drei Kindern. In Höngg. Es isch nid so schön gsi. Gottseidank war auch meine Schwester dort. Ich ging wieder zurück. Im Sommer haben wir ghöiet. In Maloja, Montaccio und Grevasalva. Und denn han ich min Ma gfunde. Er wohnte damals auf Grevasalva, aufgewachsen ist er in Soglio. Wir gingen tanzen. Und später heirateten wir, im Oktober 1954. Ich war neunzehn, er war 28. Bis Dezember wohnten wir auf Grevasalva, dann kamen wir hierher, ins Haus, wo heute das Restaurant Mortaröl ist: ohne Licht, ohne Fernsehen, ohne Radio. Aber dänn hämer Poppeli gmacht. Isch wahr!»

Marco Giovanoli hat sich zu uns an den Tisch gesetzt. Wir lachen alle drei.

«Elektrisch», fügt er hinzu, «kam 1963 von Isola über den See, mit Kabel. Dank dem EWZ, die haben alles gratis gemacht.»

Seine Frau fährt mit ihrer Erzählung fort: «In sieben Jahren hatte ich fünf Kinder. Vier Mädchen und einen Buben. Im ‹Mortaröl› waren wir etwa zehn Jahre lang. Aber immer nur im Winter. Den Sommer über, ab Mai zogen wir auf Grevasalva mit dem Veh, etwa zwölf Stück. Am Anfang verkäseten wir die ganze Milch, später verkauften wir sie. Nochmalerweise kamen wir im Oktober wieder nach Plaun da Lej hinunter. Wegen der Post, die ich hier führte, zuerst im ‹Mortaröl›, dann in unserem Haus. Zu Fuss brachte ich die Zeitungen hoch. Nach Buaira, Blaunca und Grevasalva. Ma Doja! Im ersten Jahr lag bei mir zuhause ein Baby im Bett und das nächste hatte ich schon da inne (zeigt auf ihren Bauch). Ich musste immer pressieren, und Emilio, mein Sohn, weinte jeweils, wenn er hinter mir herlief: Mama, spetscha, Mama, spetscha! (Mama warte!) Etwa fünfzehn Familien lebten hier. In Buaira leben noch heute alles Einheimische, während in Grevasalva und Blaunca fast alles verkauft wurde. Zürcher, Italiener, das isch schaad. Weil nachher kömmed si und befehled alles. Zuerst, wenn sie noch nichts haben, kommen sie auf den Knien und bitten. Aber wenn sie dann haben, was sie wollen: Alles stört! Wenn Kühe herum sind, wenn jemand hinauffährt – sofort rufen sie auf der Gemeinde an. Eine andere Mentalität.

Wo wir heute wohnen, war früher ein Maiensäss der Familie meiner Mutter. Unser Haus bauten wir 1964. Zwei Jahre vorher hatte Marco angefangen im Bündner Kraftwerk zu arbeiten, als Maschinist. Dreizehn Jahre lang Schichtarbeit. Ich molk die Kühe in dieser Zeit, noch lange von Hand. Erst 1977 kauften wir eine Melkmaschine. Die Waschmaschine kauften wir 1966. Später arbeitete mein Mann von November bis Mai beim Kinderskilift in Surlej. Als er aufhörte, war er 66.»

(...)
Die Südostschweiz, 11. Januar 2012
Hotel Revue, 19. Januar 2012
Buchhandlung im Volkshaus, Buchtipp
NZZ am Sonntag, 29. Januar 2012
Schweizer Radio DRS 1, WortOrt, 23. Februar 2012
WochenZeitung WOZ, 29. März 2012
Visit, Magazin von Pro Senectute Kanton Zürich, Ausgabe Nr. 2, Mai 2012
Terra Grischuna, Ausgabe 3/2012
Piz, Ausgabe Sommer 2012 (Buchtipp)
Revue Schweiz, September 2012
Süddeutsche Zeitung, 21. Februar 2013
Zeitlupe, März 2013

«Mit dem neuen Buch liegt ein Stück Geschichte vor, sehr individuell und trotzdem ein Spiegel der Entwicklung unserer Zeit. Kuhn porträtiert die Frauen und Männer, die fast alle der älteren Generation angehören, sehr einfühlsam. Anschaulich, lebendig, klug beobachtet und liebevoll stellt sie in ihren Texten die verschiedenen Persönlichkeiten vor, gibt ihnen Raum, lässt sie in ihrem Rhythmus erzählen, macht neugierig auf das Weiterlesen, regt zum Nachdenken und Hinterfragen eigener Erfahrungen an.

Anrührend und berührend sind die gelebten Geschichten, manchmal spannend und in jedem Fall eine interessante Lektüre.

Meinrad Schades Bilder vermitteln ungeheuer viel Lebendigkeit, lassen der Persönlichkeit der Abgebildeten Raum, bringen sie dem Betrachter nahe, stehen für sich selbst und illustrieren dennoch die Texte hervorragend. Schön sind auch die jeweiligen Ausblicke von einem Fenster der Porträtierten, sie runden ab, zeigen Perspektiven, die von Dorfimpressionen am Ende des Buches abgerundet werden.» Die Südostschweiz

«Daniela Kuhn schafft es, viele Anekdoten aus den Portraitierten ‹herauszukitzeln› und damit ein äusserst persönliches Stück Silser Dorfgeschichte nachzuzeichnen. Fotograf Meinrad Schade fängt diese Persönlichkeiten mit seinen Bildern stimmig auf.» Hotel Revue

«In 15 kurzweiligen, einfühlsamen und lustigen Porträts zeigt uns die Autorin Daniela Kuhn wer die Silser und Silserinnen wirklich sind.» Buchhandlung im Volkshaus, Buchtipp

«Das Buch zeigt eindrücklich, wie man anhand von Lebensgeschichten ein Stück Schweizer Alltagsgeschichte vermitteln kann.» Schweizer Radio DRS 1

«Erst, wenn man das Buch aus der Hand legt, realisiert man, wie viel man hier vom Oberengadin erfahren hat: Oral History im besten Sinn, ein lebendiges, von ZeitzeugInnen vermitteltes Stück Lokalgeschichte.» WochenZeitung WOZ

«Zusammen mit den authentischen und einfühlsamen Fotografien von Meinrad Schade gibt das hübsche Büchlein den dortigen Menschen ein Gesicht. Ein Stück Zeitgeschichte wird lebendig.» Visit


«15 Personen, die in Sils aufgewachsen sind und dort ihr Leben verbracht haben, erzählen Geschichten aus einem vergangenen Sils, erlauben einen untouristischen Blick hinter die Kulissen.» Terra Grischuna

«Auf die Reise geschickt von der grossen Verwandlung der Welt, von der dieses Buch natürlich in Wahrheit handelt.» Süddeutsche Zeitung

  Schweizer Radio DRS 1, WortOrt, 23. Februar 2012
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