Herz im Emmental
Bernhard Giger, Bänz Friedli

Herz im Emmental

Vom Leben mit einem Mythos

Mit Fotografien von Albert Winkler, Paul Senn, Ernst Hiltbrunner, Bernhard Giger

152 Seiten, gebunden, 29 s/w- und 13 4-farbige Fotografien
Oktober 2011
SFr. 34.–, 36.– €
sofort lieferbar
978-3-85791-648-9

per Post bestellen

Schlagworte

Emmental Sachbuch
     

Keine andere Landschaft der Schweiz ist in dem Mass wie das Emmental kollektive Projektionsfläche für das, was man Idyll nennt: Magische Landschaften, die noch heute aussehen wie zu Gotthelfs Zeiten, eine bäuerliche Bevölkerung, die den berühmtesten Käse der Welt herstellt und in prächtigen Höfen mit weiten Dächern und Geranien vor den Fenstern lebt, ein wenig wortkarg und misstrauisch dem Rest der Welt gegenüber. Eine Ur-Schweiz? Auch seine Bewohner selbst zelebrieren diese alten Werte und Bilder weiterhin gern, während heute das Emmental gleichzeitig ins Abseits zu geraten droht, gesellschaftlich, kulturell, wirtschaftlich. Ist das Emmental mehr als ein Gerücht? Dieser Frage gehen einerseits Emmentalerinnen und Emmentaler nach, indem sie von sich selbst erzählen, während Bernhard Giger und Bänz Friedli den Mythos von aussen betrachten. Fotografien von Ernst Hiltbrunner bis Paul Senn geben dem Buch eine historische Tiefendimension. Das Emmental, wie es wirklich ist.

Bernhard Giger
© Limmat Verlag

Bernhard Giger

Bernhard Giger, 1952 geboren in Bern, nach einer Fotografenlehre Programmmitarbeiter des Berner Kellerkinos, Film- und Fernsehkritiker und ab 1979 Redaktor zuerst siebzehn Jahre beim «Bund» und danach zehn Jahre bei der «Berner Zeitung» in den Bereichen Medien, Kultur und Stadtpolitik. Seit 1981 Spielfilme für Kino und Fernsehen, unter anderen «Winterstadt» (1981), «Der Gemeindepräsident» (1984), «Tage des Zweifels» (1991), «Oeschenen» (2004), mehrere Dokumentarfilme. Seit 2009 Leiter des Kornhausforums Bern. Vize-Chefredaktor «Berner Zeitung», Moderator BZ-Talk, Telebärn.

mehr...

Bänz Friedli
© Limmat Verlag

Bänz Friedli

Bänz Friedli, 1965 geboren in Bern, lebt mit seiner Frau – einer Emmentalerin – und den beiden Kindern in Zürich. Ab 1983 Arbeit für Presse, Radio und TV in den Bereichen Sport und Populärkultur, unter anderen für «Facts», «Rolling Stone», «Das Magazin», seit 2005 Hausmann und freier Autor, Kolumnist fürs «Migros-Magazin» und Satiriker in der «Zytlupe» auf Radio DRS1. Friedli tritt mit einem Bühnenprogramm auf.

mehr...

«Mir gäh nie uf!» Bänz Friedli

Bilder aus dem Film «Uli der Knecht» von Franz Schnyder

Ämmelied Tinu Heiniger

Ida Heiniger-Frauchiger

Fotografien von Paul Senn

Bruno Marazzi

Thom Blunier

Matthias Siegenthaler

Lisa Urech

Hans Grunder

Niklaus M. Lauterburg

Simon Schenk

Fotografien von Albert Winkler

Barbara «Babs» und Christine Wüthrich

Ueli Heiniger

Tinu Heiniger

Peter Jakob

Hammetour Bernhard Giger

Fotografien von Ernst Hiltbrunner

Bildsequenzen Auftakt und Ausklang von Bernhard Giger

«Mir gäh nie uf!»

«Mir gäh nie uf!»
Bänz Friedli

(...)

Im Emmental fühlt sich die Schweiz am daheimsten. Keine andere Region wird so oft dargestellt. Die Zürcher? Persifliert in vielen Sketches, nie aber liebevoll. Die Basler? Verhöhnt und wegen ihres Dünkels gefürchtet. Die St. Galler? Karikiert von Kurt Furgler bis Beat Breu. Die Emmentaler? Die hatman gern. Nicht dasWallis wurde zumSehnsuchtstopos aller Schweizer, denn es ist zu abgelegen und betont allzu eigenbrötlerisch seine Distanz zum Rest des Landes, zur «Üsserschwiz».

Der eigentlichen Urschweiz, den Innerschweizer Kantonen, fehlen die Filme und Lieder, die sie populär gemacht hätten, ihre Topografie ist zu bergig, zu schroff; der Gründungsmythos der Rütliwiese wird immer wieder durch dort aufmarschierende Neonazis getrübt, und man assoziiert die Innerschweiz vor allem mit dem Gotthardstau. Durchs Emmental führt keine Autobahn – ein Nachteil für die wirtschaftliche Erschliessung, aber Treibstoff für die romantische Verklärung –, und seine Sprache heimeltmehr an. Bündnerdeutsch verzeichnet zwar ähnlich hohe Sympathiewerte, aber Graubünden ist zu verzweigt und liegt zu sehr am Rand. Fast nur Zürcher fahren dorthin in die Skiferien. Nein, das Herz der Schweiz pocht im Emmental.

Das Emmental lädt zur kollektiven Projektion, es steht für eine ländliche, unverdorbene Schweiz. Da spielt es keine Rolle, dass die meisten gar nicht recht wissen, wo genau diese Landschaft eigentlich liegt, dass das Tal kein eigentliches Tal ist, sondernmehrere Täler und Hügelzonen umfasst. Und hat der Napf überhaupt einen Gipfel? Egal, für die meisten Schweizerinnen und Schweizer existiert das Emmental ohnehin nur in der Imagination, sie «kennen» es, ohne dort gewesen zu sein. (Gerade so, wie jeder die Bibel besitzt und keiner sie gelesen hat.) Sogar den Welschen ist «Emmental» ein Begriff, sei es nur dank dem Käse, der nach der Region benannt ist.

Dieser Käse ist bestes Beispiel, wie sehr der Mythos Emmental über die Realität triumphiert. Noch mag der Emmentaler das wichtigste landwirtschaftliche Exportgut des Landes sein. Doch von den einst stolzen tausend Käsereien zwischen Affoltern und Zäziwil wurdenmehr als drei Viertel geschlossen, die verbliebenen sind einem ruinösen Preiskampf ausgesetzt. Der meiste Emmentaler auf dem Weltmarkt stammt aus dem US-Bundesstaat Wisconsin und aus Frankreich. Selbst Deutschland produziert mit 74000 Tonnen weit mehr Emmentaler als das Emmental, und auch die Labels «AOC» und «Emmentaler Switzerland ®» vermochten nicht zu verhindern, dass «das Original!», wie die Werbung trotzig festhält, wegen des schlingernden Euros und des starken Frankens in die Absatzkrise schlitterte. Für die Deutschen freilich bleibt es dabei. Für sie heisst der Emmentaler schlicht «Schweizer Käse», Inbegriff eines kleinen, sauberen, hübschen Landes. Man mag die Emmentaler. Auch deshalb, weil sie niemandem gefährlich werden: Seit Einführung der Playoffs scheiterten die Langnau Tigers, diese sympathischen Loser, in der höchsten Schweizer Eishockeyliga Jahr für Jahr heroisch am Trennstrich, und als sie die Runde der besten acht Teams im Frühjahr 2011 wider alle Prognosen erstmals erreichten, gönnte das ganze Land den tapferen Kämpfern den Erfolg. Umso mehr, als einige von ihnen wieder echte Emmentaler Burschen waren: Moser, Reber, Gerber, Schilt hiessen sie. 1976, als Langnau ein einziges Mal Schweizer Meister wurde, stammten noch 18 von 21 Kaderspielern aus dem Dorf. In jüngster Vergangenheit jedoch hatten kaum mehr Spieler aus der Gegend im Team gestanden, meist kein einziger mehr aus Langnau selber. Das Bild der wackeren Aussenseiter hielt sich dennoch; die Schweiz sah selbst im kanadischen Raufbold Todd Elik, dem anarchischen Genie, alsbald einen «typischen Emmentaler». Und gewannen die Tigers dank dieses begnadeten Flegels selten einmal gegen den SC Bern, wurde die Mär vom Dorfverein aufgetischt, der die überheblichen Millionäre aus der Bundesstadt gebodigt hatte, wurde der Match flugs zum «Bauernkrieg» stilisiert. Und der «Blick» würzte jeden zweiten Matchbericht über die Langnau Tigers mit einem Spruch aus Gotthelfs «Geld und Geist». Weil wir es so lesen wollen. Das Emmental ist ein Wunschland. Tapfer seien sie, die Emmentaler, hat man gelesen. Also wird selbst das Elend verklärt, werden emmentalische Opfer – unterbezahlte Heimarbeiterinnen, Verdingkinder – zu Heldinnen, zu Helden idealisiert, zu Figuren ganz im Stile Gotthelfs; oder besser: im Stil, den wir uns als gotthelfsch vorstellen.

Denn Gotthelf wurde systematisch folklorisiert, romantisiert und verkitscht. In den Hörspielen des Radiostudios Bern ersetzte der Berner Mundartdichter Ernst Balzli Gotthelfs Hochdeutsch ab 1946 durch blumigen Dialekt. Diese Hörspiele spendeten Trost in den Nachkriegsjahren, wurden zu wahren Strassenfegern und etablierten das Berndeutsche auf Jahrzehnte im ganzen Land als Leitdialekt, zementierten aber auch sein altertümliches, behäbiges Image. Zwischen 1954 und 1964 siedelte Franz Schnyder seinen Gotthelf dann in sechs Verfilmungen von «Uli der Knecht» bis «Geld und Geist» in einer undatierten, ungefähren Vergangenheit an, die zur nostalgischen Verklärung lud. «Uli der Knecht» wurde zum Schweizer «Rio Bravo», Hannes Schmidhauser zu einem helvetischen John Wayne. «Kino der Nation», wurden Schnyders Filme genannt. Nicht das Toggenburg, nicht das Goms, nicht die Jurahöhen waren fortan nationale Projektionsfläche, sondern das Emmental, laut Eigenwerbung «die Schweiz der Schweiz» – wo das Land am heimeligsten ist.

Schon der erste von Franz Schnyders Gotthelf-Filmen lockte 1,6 Millionen Schweizerinnen und Schweizer ins Kino. Eine Generation bezog daraus ihr Emmentalbild, das Gotthelfs Realismus ins Surreale idyllisiert. Dabei waren weniger die Filme selber heimattümelnd als deren Rezeption: Schnyder meinte archetypische gesellschaftliche Konflikte, seine Filme enthielten durchaus gesellschaftliche Brisanz, wollten Arglist und Habgier zeigen, Neid, Boshaftigkeit, Missgunst in Zeiten des wirtschaftlichenWandels – doch das Publikumwollte nur derbe Knechte und schöne Meitschi sehen, allenfalls noch ruppige Schlägereien. Seither wird, wer «urchig» tönt, in der Presse flugs zum Emmentaler: der Rocker Florian Ast, Fussballtrainer «Pudi» Latour, Schwyzerörgeler Werner Aeschbacher, der singende Büezer Gölä und Schwingerkönig Wenger Kilian. Keiner von ihnen ist Emmentaler, alle wurden sie von Medienleuten aber als solche bezeichnet. Sie entsprechen halt dem Bild, sie befriedigen die Vorstellung, die Emmentaler seien maulfaule «Mürggle», die wenig reden, aber wenn, dann Träfes.

Seit einigen Jahren boomt der Dialekt in der Schweizer Popmusik, auch Intellektuelle setzen auf Helvetisches und Helvetismen: Schriftsteller, Theatermacher, Regisseure. Selbst am Zürcher Schauspielhaus wird Dialekt gesprochen. Und wenn der Schweizer «Dialekt» sagt,meint er Berndeutsch, das Idiom, das immer alle Beliebtheitsskalen anführt. Man hat es halt im Ohr, seit man als Kind Mani Matter gehört hat. Berndeutsch ist ein runder, gesunder Dialekt, der dank seiner dunklen Vokale und gutturalen Laute Gemütlichkeit und Urtümlichkeit ausstrahlt und in dem – «Himuheilandstärnenabenang!» – sogar das Fluchen herzig klingt.

Und je mehr die Schweiz «Heimweh» hat, wie die junge Band Plüsch es besingt, je mehr sie sich nach Heimat sehnt, aber nicht recht weiss, worum es sich hierbei handelt – «I weiss nid, was es isch ...», hat Martin Suter für Stephan Eicher getextet –, desto mehr denkt sie ans Emmental. Fette Wiesen malt sich die Restschweiz noch immer aus. Das wahre Emmental hat mit 23 500 Franken das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz, seine Zukunft ist wenig rosig. He, nun, man setzt auf die Vergangenheit, bietet touristische Rösslifahrten an und «Übernachtungen wie zu Gotthelfs Zeiten». Die Aussensicht trägt dazu bei, dass sich das Emmental zunehmend wie ein Disneyland einrichtet: In der Schaukäserei Affoltern dürfen Ausserkantonale, aber auch Japanerinnen und Taiwaner den kächen Käsern beim Käsen zuschauen. Das sind noch Kerle! Wen kümmert da, dass das Käsen im Emmental in Wahrheit kriselt?

In Berlin, London und Paris ist das Emmental, ergab eine Umfrage von Schweiz Tourismus, bekannter als Montreux, Davos und Zermatt. Das Emmental ist ein Markenzeichen. Das wissen auch die Emmentaler, und sie machen es sich zunutze. Nur erliegen sie dabei selber dem Bild, das man sich vom Emmental macht. Da kann Alfred Bauer noch lange wettern. «Chäs und Höger genügen nicht», sagte der ehemalige Geschäftsführer der Wirtschafts- und Vermarktungsorganisation Pro Emmental, «es braucht eine Erweiterung des Images.» Nüt da, die übrige Schweiz will keine Erweiterung, und die Mehrheit der Emmentaler will sie selber nicht. Die Amis lassen sich ihren Wilden Westen schliesslich auch nicht nehmen.

(...)

20 Minuten, 15. November 2011
Club-Ticket nr. 44, Dezember 2011
reformiert | saemann, 27. Januar 2012

«Die Texte in diesem Buch gefallen, weil sie nie in Heimatduseligkeit verfallen und immer wieder versuchen, die fest gefügten Bilder im Kopf in Frage zu stellen. In diesem Sinne steht hier das Emmental für die ganze Schweiz.» 20 Minuten

«Ein vielschichtiges Buch.» Club-Ticket

«In den Högern und Chrächen geht es alles andere als hinterwäldlerisch zu.» reformiert
Captcha

Ihre Meinung ist uns wichtig. Bitte nehmen Sie sich einige Minuten Zeit und teilen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Buch mit. Alle Rückmeldungen werden auch an den Autoren oder die Autorin weitergeleitet. Herzlichen Dank.