Kathrin Siegfried
Steivan Liun Könz
Geschichtenmaler & Bilderzähler 1940-1998
Mit Illustrationen von Steivan Liun Könz
Mai 2011
978-3-85791-631-1
Steivan Könz war ein begnadeter Erzähler. Ob mit Bleistift, Feder oder Pinsel, mit Nadel, Nagel oder Tube – immer brachte Könz Geschichten zu Papier oder als Sgraffiti an die Wand, fantastische Geschichten meist. Auch als mündlicher Erzähler brillierte er, am Wirtshaus- oder Küchentisch gab er Spannendes und Unglaubliches zum Besten, erlebt, gehört oder erfunden. Den Stoff für seine Geschichten fand er in der Welt seiner Herkunft, dem Engadin, oder er holte sie sich auf Reisen von Rumänien bis Äthiopien, von Italien bis Pakistan. Als Künstler war er ein Einzelgänger jenseits aller Strömungen. Seine unverwechselbaren Wandbilder schmücken Bäder und Hausfassaden vom Engadin bis in den Raum Zürich, von Luzern bis Rosenheim, von Engelberg bis Bad Tölz. Das lose Werk hängt bei zahlreichen privaten Sammlern, mehr als zweitausend Originale befinden sich in seinem Atelier in Guarda. Dieses Buch zeigt einen repräsentativen Ausschnitt aus dem vielseitigen Werk und erzählt das Leben dieses Nomaden mit festem Wohnsitz.
© Limmat Verlag
Kathrin Siegfried
Kathrin Siegfried, geboren 1961 in Zürich, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich. Seit 1990 freiberuflich in den Bereichen Theater, Ausstellung und Sachbuch tätig.Steivan Liun Könz
Steivan Liun Könz, geboren 1940 in Samedan, wuchs in Guarda auf. 1962 Abschluss der Ausbildung zum Fotografen an der Kunstgewerbeschule Zürich. Nach Afrikareise 1966 Verkauf des Fotoateliers und Beginn der freien Tätigkeit als Maler, Zeichner, Radierer, Sgraffitokünstler. 1980 Rückkehr von Zürich nach Guarda, wo er 1998 starb.Im Schloss mit den vielen Zimmern | Vorwort
IL BÖS-CH DA L A VITA – DER LEBENSBAUM
BARCHAS – SCHIFFE
L'HOM SULVADI – DER WILDE MANN
LEDA Ed iL CIGN – LEDA UND DER SCHWAN
IL NAR – DER NARR
L A TUOR DA BABILON – DER TURM VON BABYLON
IL LABIRINT – DAS LABYRINTH
Anhang
Aint il chast da bleras stanzas | Im Schloss mit den vielen Zimmern
Üna vouta n'haja scrit cha mia vita o mi'incumbenza saja da perscrutar ün chast . In quel chast daja bleras stanzas e minchadi chatt'eu üna nouva porta ch'eu stögl drivir e surtour la respunsabilt per seis cuntgnü. (...) Usch vegn eu inavant tras meis chast inchant e driv e ser portas sainza savair il scopo. Subit ch'eu am saint bain in üna stanza cumainz eu a dvantar inquiet ed impazchaint e l'inquietezza am fa partir. (...) I d stanzas furtünadas e stanzas tristas, stanzas ingio cha las portas sun avertas e portas chi sfuondran aint illa dolur e chi nu's po drivir. I d portas ch'eu n'ha drivi massa bod e portas ch'eu n'ha manchant da drivir. Da quellas chi m'han güd e man in ün'otra vita e da quellas ch'eu n'ha stuvü travuonder cun dolur il fiasco. (...) Meis chast nun es amo lönch na perscrut.¹
Einmal habe ich geschrieben, meine Lebensaufgabe sei es, ein Schloss zu erforschen. In jenem Schloss gibt es viele Zimmer. Ich finde jeden Tag eine neue Tür, die ich öffnen und für deren Inhalt ich Verantwortung übernehmen muss. (...) So gehe ich weiter durch mein verwunschenes Schloss und öffne und schliesse Türen, ohne den Zweck zu kennen. Sobald ich mich in einem Zimmer wohl fühle, werde ich unruhig und ungeduldig, und die Unruhe drängt mich zum Aufbruch. (...) Es gibt glückliche und traurige Zimmer, offene Türen und Türen, die im Schmerz versinken und die man nicht öffnen kann. Einige Türen habe ich zu früh geöffnet, andere habe ich zu öffnen versäumt. Die einen waren hilfreich und führten in ein anderes Leben, die anderen liessen mich unter Schmerzen ein Fiasko durchleben. (...) Mein Schloss ist noch lange nicht erforscht.
Steivan Liun Könz liebte es, sich durch Geschichten und Bilder auszudrücken – er malte Geschichten und erzählte in Bildern. Das Bild vom Haus oder Schloss mit den ungezählten Türen zu unbekannten Zimmern war Könz' Lieblingsmetapher, wenn es darum ging, sein Lebensgefühl zu beschreiben.
Auch ich hatte den Eindruck, in ein verwunschenes Schloss geraten zu sein, als ich vor fünf Jahren in Guarda die Tür zum Haus 86A öffnete und zum ersten Mal Steivan Liun Könz' ehemaliges Atelier betrat. Draussen das schöne, gepflegte, aufgeräumte Unterengadiner Vorzeigedorf, drinnen eine verwirrende Mischung aus Engadiner Atmosphäre und Reiseerinnerungen an Asien und Afrika, aus Malutensilien, Werkzeug, Kleidern, Gegenständen des täglichen Gebrauchs und Bildern, Collagen, Bau-Modellen, verzierten Glastellern, Haufen von bemalten Kacheln und verspielten, selbst hergestellten Objekten. Da steht eine türkische Wasserpfeife neben unzähligen Gläschen mit Pigmentfarben, über der Kuppel der christkatholischen Kirche Luzern im Kleinformat hängt ein grüner afrikanischer Mantel, unter einer hängenden weiblichen Puppe mit Labyrinthmuster auf dem Bauch liegt eine Wasserwaage auf einer riesigen Schachtel voller Fotos, die Könz aus Illustrierten und alten Brockhausbänden gerissen und für Collagen gesammelt hat. Das Atelier wurde nach Könz' Tod im Jahr 1998 gründlich aufgeräumt, betont die Witwe Andrea Könz. – Wie mag eszu Lebzeiten des Künstlers ausgesehen haben?!
Ebenso vielgestaltig und unüberblickbar wie sein Atelier ist Steivan Liun Könz' Bekanntenkreis. Er hat Hunderte von Menschen «gesammelt». Ursprünglich hatte ich mir deshalb vorgestellt, die Recherchierphase hauptsächlich mit Interviews zuzubringen, unterwegs von einer Person zur andern, auf der Reise auch zwischen den vielen Hausfassaden, die Könz in der Schweiz gestaltet hat.
Doch dann entdeckte ich im Atelier neben dem grossen Bilderarchiv, das Andrea und Alexandra Könz in wochenlanger, akribischer Arbeit angelegt haben, rund 130 Skizzen- und Tagebücher, passend zum Besitzer in allen Farben und Formaten, vom kleinsten Mini-Kalender bis zum riesigen, wunderschönen Folianten aus Indien. Diese Bändchen und Bände sind vollgezeichnet und gemalt mit Entwürfen, Skizzen, Gouachen, vor allem aber enthalten sie tausende Seiten Tagebuchberichte und Gedanken, die Könz im Lauf seines Lebens festgehalten hat. Der Schreiber ging nicht systematisch vor: Offenbar hatte er stets mehrere Skizzenbücher in Gebrauch und achtete nicht auf die Chronologie seiner Einträge. Soweit es möglich war, versuchte ich dennoch, eine Ordnung in die Sammlung zu bringen, nummerierte die Bände durch und machte mich ans Lesen. So wurde aus meiner äusseren Reise zu Menschen und Häusern erst einmal für viele Monate eine innere Reise. Ich entdeckte, dass der beste Weg zu Steivan Liun Könz die Spuren sind, die er selbst auf Papier hinterlassen hat.
Obwohl ich in den ersten Monaten ausser den Zugfahrten vom Unterland ins Engadin kaum Ortsveränderungen vornahm, waren meine Recherchen ein langer Weg durch fremdes Gebiet. Ich spürte bei meinen Gängen durch Guarda und den Begegnungen mit Dorfbewohnern eine gewisse Irritation, die wohl damit zu tun hatte, dass ich zwar keine Touristin war, aber doch eindeutig nicht dazugehörte. Als noch schwieriger erwies es sich, im Atelier Zugang zu Könz' Hinterlassenschaft zu finden. Die persönlichen Aufzeichnungen waren grösstenteils romanisch geschrieben und blieben mir vorerst verschlossen. Auch die Bilder in den Skizzenbüchern halfen nicht weiter: Ich fühlte mich von ihrer erzählerischen Opulenz und der Allgegenwart von ausgesprochen männlich geprägter Sexualität überfordert. Meine Auseinandersetzung mit Steivan Liun Könz bedeutete zunächst das Feststellen von Differenz: Als Frau, Deutschschweizerin und Person, die Wert auf Reduktion und Strukturen legt, stand ich einem Mann und romanisch schreibenden Engadiner gegenüber, dessen Biotop – das war auch im aufgeräumten Atelier deutlich zu erkennen – das Chaos war. Ich befand mich in der Eingangshalle eines verwunschenen Schlosses und hatte zu keiner der zahlreichen Zimmertüren den passenden Schlüssel.
Viel später stiess ich in den Skizzenbüchern auf einen Text, in dem Könz schildert, wie er sich den Umgang mit seiner Kunst wünscht. Er spricht von der Zeit, die man sich nehmen soll, um die Bilder zu betrachten, bis sie jedem eine andere Geschichte erzählen. Geduld war notgedrungen auch für mich die Losung. Ich lernte Vallader, das Unterengadiner Romanisch, reiste zu Beispielen für Könz' Kunst am Bau, sprach mit Freunden und Familienmitgliedern, sah mir TV-Sendungen über ihn an. Vor allem aber verbrachte ich viel Zeit im Atelier und liess die Atmosphäre auf mich wirken. Und immer wieder blätterte ich in den Skizzenbüchern. Nach und nach fand ich Zugänge: zu Könz' literarischen Texten, die er immer geheim gehalten hatte, ich begann, die Tagebucheinträge zu verstehen, und so wurden mir auch die Bilder vertraut. Ich kam Könz' komplizierter, zwischen Gegensätzen aufgespannten Persönlichkeit auf die Spur, die mich immer wieder neu herausforderte, und ich entdeckte die Offenheit und Unerschrockenheit, die seine Lebenshaltung prägten. So wurde aus der anfänglichen Fremdheit eine lange Entdeckungsreise, eine persönliche Auseinandersetzung.
Bald war mir klar, dass ein Buch über Steivan Liun Könz kein chronologischer Bericht sein konnte. Als mir die Zusammenhänge zwischen den Lieblingsmotiven des Künstlers und den thematischen Schwerpunkten seines Lebens deutlich wurden, entschied ich mich für eine Erzählweise, die bündelt, was zueinander passt. Das Bild von Könz' Persönlichkeit als Schloss mit vielen Türen hat mich beim Schreiben geleitet. Sieben grosse Säle habe ich betreten und in sieben Kapiteln ausgeleuchtet. Viele Räume sind ungeöffnet oder sogar unentdeckt geblieben, so dass am Ende wieder Könz' Feststellung steht: «Mein Schloss ist noch lange nicht erforscht.»
1 Eintrag 26.1.1997 in: Tagebuch Nr. 7.
Die Bilder sind urheberrechtlich geschützt: Keine Verwendung irgendwelcher Art ohne Genehmigung des Verlags. | ||||
Champfèr, Hotel Chesa Guardalej, Wellnessoase Aqualej, Stirnwand (oben) und Seitenwand Hallenbad |
Tages-Anzeiger, 2. Juli 2011
Der Landbote, 8. Juli 2011
Neue Zürcher Zeitung, 9. Juli 2011
Die Südostschweiz, 17. Juli 2011
Engadiner Post, 19. Juli 2011
Schweizer Radio DRS 1, Regionalournal, 19. Aug. 2011
Schweizer Radio DRS, Echo der Zeit, 19. Sept. 2011
Im Lesesaal, Februar 2012
Bericht von Karl Wüest SDA, erschienen in: Luzerner Zeitung; Aargauer Zeitung; Landbote; Blick; Cash; St. Galler Tagblatt.
«Kathrin Siegfried, von Haus aus Historikerin, aber auch als Kuratorin und Dramaturgin unter anderem in Zürich tätig, schafft es, diesen auf seinen Fassaden starken, aber im Leben suchenden Menschen fassbar zu machen – eine Persönlichkeit, die zwischen vielen Polen aufgespannt war. Mit viel Einfühlungsvermögen, guter Dramaturgie und einem Stil, der auch Fragen stellt.» Tages-Anzeiger
«Die kluge Verknüpfung von Leben und Werk, die Nähe schafft und unauflöbare Distanz nicht negiert, macht die Biografie des 1998 verstorbenen Steivan Liun Könz zu einem spannenden und aufschlussreichen Buch.» Der Landbote
«Dass Könz nicht nur ein Künstler der Bilder, sondern auch ein Künstler der Sprache war, überrascht.» Die Südostschweiz
«Denn das Leben von Steivan Liun Könz war so vielfältig und intensiv wie seine energievollen und farbenfrohen Bilder. Der zwei Mal verheiratete Steivan Liun Könz war ein liebevoller Vater, [... Zeile fehlt!] Unterengadiner, ein begabter Schreiber, ein bekennender Lebemann mit Passion für gutes Essen und guten Wein. Ein Frauen-Charmeur, ein Philosoph, ein Kunstförderer und noch vieles mehr. Das alles zwischen zwei Buchdeckeln zu bringen war sicher keine einfache Aufgabe. Die Autorin Kathrin Siegfried hat diese Herausforderung jedoch auf wunderbare Art gelöst und ein äusserst lustvoll geschriebenes, wie auch ästhetisch attraktives Buch hervorgebracht.» Engadiner Post
«Sein sorgfältig editiertes Werk im Limmat Verlag folgt sensibel seinem Lebensweg. Zudem ist es gut zu lesen, was bei Künstlerbüchern keine Selbstverständlichkeit ist. » Im Lesesaal
«‹Mein Schloss ist noch lange nicht erforscht›, so die Quintessenz ein Jahr vor seinem Tod. Es ist die Quintessenz eines Künstlers, der sein Leben nie in Ordnung bringen konnte, bringen wollte, der bis zum Schluss dem kreativen Chaos verschrieben blieb. Eros lässt grüssen.» Karl Wüest (SDA)
Bilder aus diesem Buch sind auch als Postkarten erschienen.