Jeannot Bürgi
Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Eine Kindheit aus der Innerschweiz
Mai 2011
978-3-85791-627-4
1939 – Landesausstellung: Unweit des Festgeländes in Zürich wird an einem Spätsommerabend ein Säugling in einer Kartonschachtel aufgefunden. Das Findelkind kommt zur städtischen Fürsorge und wird Jahre später von einem kinderlosen Ehepaar aus der Innerschweiz adoptiert. Der Bub verbringt seine Kindheit auf einem Bauerngut – dem 'Loch' – in Bürglen am Lungernsee. Im Zentrum dieser Kinderwelt steht Ätti, der schwadronierende Grossvater, der das Bätziwasser liebt und die Feste feiert, wie sie fallen. Lebenslustig ist auch der Vater, er arbeitet im Holzbau und ist viel unterwegs. Mutter ist fromm und empfängt den Dorfkaplan bei Schinken und Rauchwurst zu erbaulichen Gesprächen. Dass der Kleine dem Adoptivvater gleicht, sorgt für Gespött, darüber gesprochen wird nicht. Des Rätsels Lösung liegt im Nachlass der Mutter. Unzimperlich und oft hart ist das Leben in der kleinen Gemeinde. Nüchtern, unverblümt und doch mit Wärme erinnert sich Jeannot Bürgi an seine Kindheit in dieser katholisch-barocken Welt der Vierzigerjahre.
© Andrea Bickel
Jeannot Bürgi
Jeannot Bürgi, geboren 1939 in Zürich, wächst in Bürglen OW auf. Nach der Kunstgewerbeschule Luzern freier Bildhauer in Holland, ab den Achtzigerjahren in der Schweiz, in Frankreich und Griechenland. 1986 mit dem ersten Küsnachter Kulturpreis ausgezeichnet. Er starb 2011 im Kanton St. Gallen.Um in den Himmel zu kommen ...
Um in den Himmel zu kommen, musste man katholisch sein, scheinbar war das ein Ort, der nur Katholiken vorbehalten war. Dort war alles wunderschön, da wohnte der liebe Gott, umgeben von seinen Engeln, die den ganzen Tag Halleluja sangen und ihn lobpreisten, flankiert von den Heiligen. Was die den ganzen Tag taten, wusste niemand. Gewöhnliche Menschen hatten keinen Draht zum lieben Gott, nur ein Priester hatte da eine direkte Verbindung. Gott sprach nämlich Lateinisch, das konnte unser Kaplan auch. Ich bewunderte ihn dafür, und ich teilte meiner Mutter mit, ich wolle diese Sprache auch lernen.«Zuerst musst du mal getauft werden», meinte sie, «du bist ja noch ein Heide.» Das erklärte natürlich vieles, vor allem erklärte es den unseligen Zustand, in dem ich mich befand. Ein Heide sei kein Christ, doppelte mein Vater nach und lachte, so einer komme direkt in die Hölle, wenn er sterbe.
Das sagte er nur, um Mutter zu provozieren. Selbst war er, zum Leidwesen seiner Frau, nicht sehr katholisch, da er während seiner Kindheit unter der Bigotterie seiner eigenen Mutter gelitten hatte.
Also wurde ich eines Tages getauft. Meine Tante Marie, die ältere Schwester meiner Mutter, war dafür extra aus dem Melchtal angereist, sie sollte meine Patin sein. Als Taufpate fungierte mein Vater, wie er Johannes hiess, sollte auch ich fortan so heissen, das entsprach der Familientradition. Von der ganzen Zeremonie ist mir nicht viel in Erinnerung geblieben, nur dass ich mit Wasser begossen wurde und dass dabei viel vom Teufel die Rede war, dem man abzuschwören hatte, libera nos, Domine, bewahre uns, oh Herr. Vom Satan und allen seinen Werken, libera nos, Domine, dann gingen wir alle zum «Göttiwii» ins nächste Restaurant, der Pfarrer war dabei und auch unser Herr Kaplan, dazu zwei, drei «Schlottergötti» und im Zentrum des Ereignisses natürlich ich selbst, der ich nun ein richtiger katholischer Christ war. Ein währschaftes Essen wurde aufgetischt, viel Wein wurde getrunken, und zuletzt strebten wir alle in recht heiterer Stimmung dem «Alpenblick», unserem Wohnhaus, zu.
Zum Abschluss der Feier galt es noch eine Torte zu verzehren, die meine Mutter zu diesem festlichen Anlass gebacken hatte, und dazu viele Kaffees mit Schnaps, bei uns «Cheli» genannt. Der Ätti war an diesem Abend voll in seinem Element, er sass auf der Ofenbank und spielte zwischendurch auf seinem Schwyzerörgeli, während mein Vater ihn mit «Chlefelen», das ist mit zwei Löffeln den Takt schlagen, begleitete. Nun war ich also Christ.
«Ein lebendiges, starkes Buch, krass und klug, plastisch, ohne Schnörkel. Ein wertvoller Beitrag zur Schweizer Sozial- und Kulturgeschichte.» NZZ am Sonntag
«Bürgi erzählt ohne Groll und Urteil, nimmt die Menschen, wie sie sind, und macht es der Leserin leicht, alle gern zu bekommen. Die Mutter Elisabeth, die für das Seelenheil mit ihrer Familie streitet, den Pfarrer feist füttert und dem Buben das Schämen beibringt. Den Vater Lochhans, der lieber allen anderen Frauen schöne Augen macht, nur seinem Elisi nicht. Den Ätti Lochhänsl, der sein Bätziwasser über jedes gesunde Mass hinaus liebt, Geld zusammenschnorren kann, dass es kracht, und der Meinung ist, ein Mann brauche nur drei Hosen in seinem Leben: lederne, halbleinene und tannige.» Saiten
«Jeannot Bürgi erzählt nicht sein Leben, er bildet sozusagen vom Schoss der Familie ausgehend die kleine Welt nach, aus der er später ausbrach, um als freier Künstler in fremden Ländern zu arbeiten. Echt und unzimperlich geschildert, knapp und gut lesbar formuliert. » Obwalden und Nidwalden Zeitung
«Mit dem Schicksal will Jeannot Bürgi nicht hadern. ‹Das Leben hat es doch gut mit mir gemeint›, schreibt er in der Einleitung. Zur Beerdigung seiner Mutter ist er nicht gegangen, und ob sein Vater wirklich sein Vater war, ‹interessiert mich nicht mehr›. Da spricht einer, der gezwungen war, sich selbst zu behaupten. Der hinten im «Loch» viel über das Leben gelernt hat. Und über das Sterben.» St. Galler Tagblatt
«Bürgi erzählt dies alles in einer träfen und doch warmen Sprache, die sich zu berührenden Szenerien verdichtet und die die unwirtliche und doch Geborgenheit schaffende Umgebung des neuen Zuhauses treffend wiedergibt: Liebevoll und hart zugleich erscheint dieser ländliche Kosmos, den man auf den ersten Blick nicht mit dem 20. Jahrhundert assoziieren würde.» Neue Zürcher Zeitung
«Es ist ein Genuss, diese ärmliche dörfliche Welt der Innerschweiz in den vierziger Jahren des 20. Jh. von einem Insider erzählt zu bekommen.» Buchprofile/Medienprofile