Mutter, wo übernachtet die Sprache?

Mutter, wo übernachtet die Sprache?

14 Porträts mehrsprachiger Autorinnen und Autoren in der Schweiz: Melinda Nadj Abonji, Arno Camenisch, Wen-huei Chu, Simon Froehling, Zsuzsanna Gahse, Dmitrij Gawrisch, André Vladimir Heiz, Daniela Janjic, Saïda Keller-Messahli, Ingrid Lukas, Marius Danie

Mit Texten von Ursula Binggeli, Beat Mazenauer, Frank von Niederhäusern, Bruno Rauch, Charlotte Staehelin Stadler, Willi Wottreng, Karl Wüst / Mit Fotografien von Alessandro Della Bella / Mit einem Vorwort von Francesco Micieli / Herausgegeben von Schweizer Feuilletondienst (SFD)

152 Seiten, 14 Fotografien schwarz-weiss
1., Aufl., September 2010
SFr. 34.–, 38.– €
sofort lieferbar
978-3-85791-615-1

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Die Schweiz ist ein Eldorado der Mehrsprachigkeit. Das zeigt sich immer deutlicher auch in der Literatur. Viele Autorinnen und Autoren schreiben nicht mehr nur in einer Sprache. Sie greifen zurück auf eine zweite, die ebenso eng mit ihrem Leben verknüpft ist, und publizieren zweisprachige Lyrik, Romane, Geschichten. Oder sie schreiben in einer Landessprache und übersetzen Texte aus ihrer Muttersprache. Oder sie schreiben in ihrer Muttersprache und übersetzen Schweizer Texte. Permanent wechseln diese Autorinnen und Autoren zwischen verschiedenen Sprachwelten hin und her. Ein Gewinn für sie? Eine harte Herausforderung? Die vierzehn Porträts fragen nach den Beweggründen, literarisch in zwei Sprachen zu arbeiten, und danach, was dieses Schreiben in zwei Sprachen für das Schreiben und die Sprache(n) selbst bedeutet.

Schweizer Feuilletondienst (SFD)

Schweizer Feuilletondienst (SFD)

Als kultureller Informationsdienst schreibt der SFD tagesaktuell über Theater- und Tanzpremieren, über Kunstausstellungen und Konzerte in der ganzen Schweiz, und er bespricht jeweils die belletristischen Neuerscheinungen auf dem Deutschschweizer Büchermarkt. Kleine Häuser berücksichtigt er ebenso wie grosse, junge Autoren ebenso wie arrivierte. Randständige Kunst liegt dem SFD gleichermassen am Herzen wie der Mainstream.

Doch der SFD berichtet nicht nur über die kulturelle Aktualität. Da er als verständigungspolitische Organisation durch das Bundesamt für Kultur (BAK) finanziert und von den Kantonen subventioniert wird, schreibt er auch thematische Artikelserien über die vier- bzw. vielsprachige Schweiz.

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Die Sprache übernachtet in der Sprache Vorwort von Francesco Micieli
 
Daniela Janjic Von Charlotte Staehelin
 
Marius Daniel Popescu Von Roland Maurer

Zsuzsanna Gahse Von Karl Wüst

Simon Froehling Von Bruno Rauch

André Vladimir Heiz Von Ursula Binggeli

Ingrid Lukas Von Frank von Niederhäusern

Yusuf Yeşilöz Von Karl Wüst

Leta Semadeni Von Bruno Rauch

Saïda Keller-Messahli Von Willi Wottreng

Dmitrij Gawrisch Von Charlotte Staehelin

Melinda Nadj Abonji Von Willi Wottreng

Arno Camenisch Von Beat Mazenauer

Wen-huei Chu Von Ursula Binggeli

Vincenzo Todisco Von Roland Maurer

Autorinnen, Autoren und Fotograf

Die Sprache übernachtet in der Sprache

Von Francesco Micieli


I

Wenn ich die hier veröffentlichten Porträts lese, wird mir mit aller Wucht klar: Mit den Menschen, die hier vorgestellt werden, möchte ich eine Sprachgemeinschaft gründen, eine Heimat des Herzens. Die Beziehung zum Nächsten würde über die Sprache stattfinden, genauer gesagt über die Sprachen. Hier würden wir uns, unsere Fremdheit und unsere Teilhabe entdecken.

Der Ort der Sprache ist die Sprache, auch wenn wir diese in den Plural setzen. Die Sprache übernachtet in der Sprache.

II

Als ich sechsjährig war, verlor meine Grossmutter das alte italoalbanische Wort für Fenster, sie kannte nur noch das italienische Wort dafür (heute erinnere ich mich wieder, es war «finester» statt «dritësore»). Danach schaute sie nie mehr zu einem Fenster hinaus. Sie sass tagelang an der Türschwelle und wurde zur Hüterin der Bewegungen im Haus. Grossmutter hatte ihr Leben lang in nur einer Sprache gelebt. Alles andere war «latir», lateinisch.

Mir wurde klar, dass man Wörter verlieren, aber auch, dass man neue finden kann. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich sehr bald mit meinem kleinen italoalbanischen Wortschatz vor einem riesigen fremden Wortschatz stehen würde.

III

Meine Eltern holten mich in die Schweiz. Ich küsste meine Grossmutter und trug den von ihr geerbten kleinen Wortschatz über die Türschwelle.

IV

Eine Sprache spricht zu dir, nur verstehst du sie nicht. Du hörst sie dir an, immer wieder ganz genau, du schaust sie dir an, betrachtest sie, durchleuchtest sie, bis du nach ihr greifst, bis du begreifst. Und sie entwischt dir, wenn du denkst, dass du sie packen könntest.

V

Die Sprache ist der stärkste Trumpf. Um dich auszuschliessen, spricht man dich in unfertigen Sätzen an, sagt dir die Wörter auf die Weise falsch, wie man vermutet, dass du sie sagen würdest.

Du hast eine handicapierte Sprache. Das sollte man dir an die Stirn tätowieren.

Deswegen erahnen Fremde und Heimatlose, von einer Sprache betört, instinktiv ihre Gipfel und Grate und wollen diese erklimmen.

VI

Die Sprache oder die andere Sprache der in diesem Buch Porträtierten ist keine ausschliessende. Sie ist ein «und», denn eine Sprache sagt nicht, was eine andere «ist», noch drückt sie das Wahre der anderen aus; das «und» verbindet sie. Die erste Sprache und die zweite. Die Muttersprache und die Ankunftssprache, oder die vererbte Sprache und die Gastsprache. Das «und» verweist aber auch auf den Abstand. Die Trennung wird vereint. Die «sprachliche Migration» ist bei ihnen kein «ist» wie bei Menschen mit nur einer Sprache. Sie ist ein «und». Das «ist» kennt nur Antworten, das «und» Fragen.

VII

Für meine Eltern gab es kein «und». Es gab die Sprache des Mutterraumes, die auch die Sprache der Liebe und der Erzählungen war. Daneben gab es die Sprachen der Macht, der Befehle. Die Sprache, die sie kaum kannten und konnten. Das Italienische des Staates, der Juristen; das Berndeutsche

der Fremdenhalter.

Das «und», diese entfernte Nähe, entstand für sie nicht. «Gott spricht Deutsch», sagte mir meine Mutter kurz vor ihrem Tod.

VIII

Adam durfte sich nur vor die Geschöpfe stellen und ihnen Gottes Namen geben. Die Schöpfung nach-sprechen. Wie kleine Kinder es heute noch tun, oder eben wie Fremde, wenn sie die Sprache der Arbeitgeber lernen.

Der erste Sprechakt war eine Auflehnung. «Iss den Apfel, Adam.»

Die Strafe die Auswanderung und körperliche Schmerzen. «Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären.»

Später kam die sprachliche Bestrafung hinzu: Nix verstahn.

IX

Die fremde Sprache lässt dich glauben, dass du in einer Sprache zu Hause bist.

X

Babel lässt sich nur mit Sprache überwinden und mit dem Heiligen Geist, der an Pfingsten die Zungen löst, oder eben mit immerwährender sprachlicher Migration.

XI

Nicht alle hier versammelten Autorinnen und Autoren sind wie ich der Meinung, dass «wir sind, was unseren Grosseltern zugestossen ist» – das Zitat stammt von der amerikanischen Schriftstellerin Deborah Eisenberg – oder sind «Vergangenheitsbetrachterinnen» (ich bin es ganz bestimmt), wie Zsuzsanna Gahse sagt, aber alle betrachten die Sprache, die Wörter mit dem Wissen und Haben mindestens einer anderen Sprache. Es ist das ein anderes Betrachten als das eines Einsprachigen. Die Sprachen betrachten sich in der Sprache. Melinda Nadj Abonji, Arno Camenisch, Wen-huei Chu, Simon Froehling, Zsuzsanna Gahse, Dmitrij Gawrisch, André Vladimir Heiz, Daniela Janjic, Sa da Keller-Messahli, Ingrid Lukas, Marius Daniel Popescu, Leta Semadeni, Vincenzo Todisco, Yusuf Yes¸ilöz schenken uns eine besondere Vielstimmigkeit. Sie sind der Wind, der die Dinge zum Klingen bringt.

IX

Die fremde Sprache lässt dich glauben, dass du in einer Sprache zu Hause bist.

X

Babel lässt sich nur mit Sprache überwinden und mit dem Heiligen Geist, der an Pfingsten die Zungen löst, oder eben mit immerwährender sprachlicher Migration.

XI

Nicht alle hier versammelten Autorinnen und Autoren sind wie ich der Meinung, dass «wir sind, was unseren Grosseltern zugestossen ist» – das Zitat stammt von der amerikanischen Schriftstellerin Deborah Eisenberg – oder sind «Vergangenheitsbetrachterinnen» (ich bin es ganz bestimmt), wie Zsuzsanna Gahse sagt, aber alle betrachten die Sprache, die Wörter mit dem Wissen und Haben mindestens einer anderen Sprache. Es ist das ein anderes Betrachten als das eines Einsprachigen. Die Sprachen betrachten sich in der Sprache. Melinda Nadj Abonji, Arno Camenisch, Wen-huei Chu, Simon Froehling, Zsuzsanna Gahse, Dmitrij Gawrisch, André Vladimir Heiz, Daniela Janjic, Sa da Keller-Messahli, Ingrid Lukas, Marius Daniel Popescu, Leta Semadeni, Vincenzo Todisco, Yusuf Yes¸ilöz schenken uns eine besondere Vielstimmigkeit. Sie sind der Wind, der die Dinge zum Klingen bringt.
Süddeutsche Zeitung, 21. November 2010
Schweizer Monatshefte, November 2010
nahaufnahmen.ch, Februar 2011
Neue Zürcher Zeitung, 15. Februar 2011
«Querdurch ist zu lernen: der Grad an Selbstverständlichkeit und Komfort, den das Wohnen in einer Sprache annimmt, ist bei jedem anders. Mehrsprachige scheinen allgemein mehr von aussen an die Wörter heran zu gehen. Ihr Schreiben in nur einer Sprache atmet stets ein Quantum Fremdsprachlichkeit, Setzung und Übersetzung; dies macht den gewaltigen Abstand der kulturellen Räume hinter den Sprachen ahnbar.» Schweizer Monatshefte

«Die Schreibenden hegen ein geradezu zärtliches Verhältnis zur Zweitsprache, deren Wörter sie dank dem Wissen ihrer Herkunftssprache anders und gründlicher betrachten, manchmal nicht ohne Skepsis gegenüber dem, was sie vermögen. Inspirierend bleiben auch die Feststellungen zur Differenz zwischen der deutschen Sprache und jener der Kindheit.» Neue Zürcher Zeitung