Schaufenster Schweiz
Yvonne Zimmermann (Hg.)

Schaufenster Schweiz

Dokumentarische Gebrauchsfilme 1896-1964

Mit Texten von Anita Gertiser, Yvonne Zimmermann, Pierre-Emmanuel Jaques

584 Seiten, gebunden, 400 Fotos und Abbildungen
November 2011
vergriffen
978-3-85791-605-2

Schlagworte

Film Sachbuch Geschichte
     

'Schaufenster Schweiz' präsentiert erstmals eine kohärente Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz bis 1964. Im Mittelpunkt stehen Reise- und Tourismusfilme, Industriefilme sowie Schul- und Lehrfilme und ihre Verwendung für Aufklärung, Werbung und Bildung. Diese ‹Gebrauchsfilme› geben Aufschluss über die vielfältigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen des Mediums Film jenseits der kommerziellen Kinounterhaltung. Sie haben Bilder und Vorstellungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat entworfen und international verbreitet, haben imaginäre Gemeinschaften gebildet, Waren- und Staatsbürgerkunde betrieben, Medien- und Konsumkultur eingeübt, das nationale Selbstverständnis geprägt und an der Modernisierung des Landes mitgewirkt. Das Buch ist mit seiner umfangreichen Filmografie ein Standardwerk zur Schweizer Mediengeschichte. Es erschliesst ein reiches kulturelles Erbe und sensibilisiert für seine prekäre Überlieferungssituation.

Yvonne Zimmermann
© Limmat Verlag

Yvonne Zimmermann

Yvonne Zimmermann, geboren 1969, hat in Zürich studiert und 2005 in Filmwissenschaft promoviert. Sie arbeitete in verschiedenen Forschungsprojekten zum dokumentarischen Film in der Schweiz, war 2010/11 Gastprofessorin an der Sorbonne Nouvelle Paris 3 und ist derzeit Visiting Scholar an der New York University, wo sie zu Hans Richter und den Schnittstellen von Avantgarde und Auftragsfilm forscht. Zu ihren Publikationen zählen «Bergführer Lorenz: Karriere eines missglückten Films» und die dreiteilige DVD-Serie «Zeitreisen in die Vergangenheit der Schweiz: Auftragsfilme 1939–1959».

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Anita Gertiser

Anita Gertiser

Anita Gertiser geboren 1959, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Englischen Literatur an der Universität Zürich. 2002 bis 2004 Mitarbeit im Nationalfondsprojekt «Ansichten und Einstellungen: Zur Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz / Vues et points de vue: Vers une histoire du film documentaire en Suisse» des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich, Schwerpunkt Schul- und Lehrfilm. Redaktionsmitglied und Mitherausgeberin des Schweizer Filmjahrbuchs Cinema. 2010 Dissertation «‹Falsche Scham›: Strategien der Überzeugung in Aufklärungsfilmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1910–1935» im Rahmen des Graduiertenkollegs «Körper, Gedächtnis und Geschlecht» 2005 bis 2008 (erscheint voraussichtlich 2012). Lehrbeauftragte am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und Dozentin für Kommunikation und Kultur an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Technik in Windisch.

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Pierre-Emmanuel Jaques

Pierre-Emmanuel Jaques

Pierre-Emmanuel Jaques, geboren 1968, Studium der Filmwissenschaft, Romanistik und Geschichte der Neuzeit an der Universität Lausanne. 1995 bis 2001 Assistent an der Section d'histoire et esthétique du cinéma der Universität Lausanne. 2002 bis 2006 Mitarbeit im Nationalfondsprojekt «Ansichten und Einstellungen: Zur Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz / Vues et points de vue: Vers une histoire du film documentaire en Suisse» des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich, Schwerpunkt Reise- und Tourismusfilm. Dissertationsprojekt zur Filmkritik in Genf in den 1920er Jahren. Autor zahlreicher Aufsätze zur Schweizer Filmgeschichte, darunter vorab zur Landschaft und Filmkritik, und Ko-Autor von Le spectacle cinématographique en Suisse (1895–1945) (Lausanne: Antipodes 2003; mit Gianni Haver). Forschungsbeauftragter der Universität Lausanne in einem Projekt zur Valorisierung der Archivbestände der Cinémath que suisse Lausanne.

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Inhalt

Neue Impulse in der Dokumentarfilmforschung: Einleitung
Yvonne Zimmermann

Topografien des dokumentarischen Gebrauchsfilms

Dokumentarischer Film: Auftragsfilm und Gebrauchsfilm

Yvonne Zimmermann

Dokumentarischer Film in der Schweiz im historischen Überblick (1896–1964)

Pierre-Emmanuel Jaques, Yvonne Zimmermann

Forschungsbericht zum dokumentarischen Film in der Schweiz (1896–1964)

Yvonne Zimmermann, Pierre-Emmanuel Jaques

Reise- und Tourismusfilme
Pierre-Emmanuel Jaques

Zeigen heisst Werben: Wiedererkennen und ästhetische Innovation

‹Nationalisierung› von Sujets aus der Schweiz

Rationalisierung des Tourismusfilms und Auslandpromotion

Inlandpromotion im Zeichen der ‹Geistigen Landesverteidigung›

Stabilität und Erneuerung der filmischen Repräsentation

Industriefilme
Yvonne Zimmermann

Etablierung von Vertriebs- und Aufführungsstrukturen

Konsumentenerziehung: Film- und Kinokulturen der Lebensmittelbranche

Unternehmenskultur: Filmische Profile der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie

Die ‹weisse Kohle› – Reichtum der Nation: Zur Rhetorik von Elektrizitätsfilmen

Schul- und Lehrfilme
Anita Gertiser

Schundfilmdebatte und Kinoreformbewegung

Der Schweizer Schul- und Volkskino: Promotor des ‹allgemeinen› Lehr- und Kulturfilms

Lehrfilmstelle Basel-Stadt: Drehscheibe der europäischen Lehrfilmbewegung

Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Unterrichtskinematographie: Hüterin des ‹reinen› Lehrfilms

Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Zeittafel
Bibliografie
Filmografie
Bildnachweis
Autorinnen und Autor
Register

Filmsozialisation durch die Privatwirtschaft: Der Fip-Fop-Club

FipFopGuisan

General Guisan, Ehrenmitglied des Fip-Fop-Clups 1940.

FipFopInserat Die kulturelle und soziologische Bedeutung des unternehmerischen Wanderkinobetriebs ist kaum zu überschätzen. Die mobilen Vorführungen bereicherten ab den 1920er Jahren die populäre Filmkultur ausserhalb kommerzieller Kinos und dominierten sie in den 1950er Jahren gar. Die Privatwirtschaft bot dem einheimischen Publikum nicht nur eine Ergänzung, sondern eine Alternative zum kommerziellen Kino: Neben ‹klassischen› Industriefilmen offerierte sie kostenlos exklusive Corporate-Filme in Gestalt unterhaltender Reise- und «Heimatfilme» und verschenkte Warenmuster. Sie brachte die -Bevölkerung in abgelegenen Gebieten nicht selten zum ersten Mal in Kontakt mit dem Medium Film. Dem Bericht einer sogenannten -Maggi-«Propagandistin» aus dem Unterengadin von 1934 ist zu entnehmen:

Meine Ankunft in Tarasp wurde zu einem Dorfereignis. Beim Schulhaus empfing mich der Herr Gemeindepräsident und erkundigte sich, in welcher Weise man mir behilflich sein könnte. Der Schülerveranstaltung wohnten Pfarrer, Lehrer und einige «Dorfälteste» bei, die ganz bei der Sache waren und auch mit Vergnügen ihr Beckeli Maggisuppe assen.

In Manas wurde ich mit Spannung erwartet. Wie gross war mein Erstaunen, als zum Beginn meiner Veranstaltung die Glocken der kleinen Kirche läuteten! Alles, was Beine hatte, kam herbei. Wenige von den Teilnehmern hatten schon einen Film gesehen.188

Programmzettel Fip-Fop-Show für Eltern und Kinder im Hotel Meierhof in Horgen 1939.

Fernab der kommerziellen Kinos war es neben dem SSVK die Privatwirtschaft, die Erwachsene und vor allem Kinder mit dem Medium Film sozialisierte. Für weite Teile der Bevölkerung waren die ersten Erfahrungen mit dem Medium Film weder von der Institution Kino noch von Langspielfilmen und internationalen Leinwandstars geprägt, sondern von Gebrauchsfilmen der Wirtschaft, deren Reiz häufig in ihrem nationalen, regionalen oder gar lokalen Fokus lag. Die unternehmerischen Filmaufführungen hatten den Rang gesellschaftlicher Ereignisse und waren Teil der Festkultur. Mediensozialisation ging dabei Hand in Hand mit Konsumsozialisation: Mittels populärer Filmkultur verbreiteten Unternehmen die mediale Präsenz industrieller Waren selbst in traditionell bäuerlichen, sich weitgehend selbst versorgenden Regionen. Die populärkulturelle Konsumentenschulung, wie sie in der unternehmerischen Filmpraxis flächendeckend betrieben wurde, trug mit zur Initiation der Konsumkultur und ihrer Durchsetzung zum Massenkonsum in den 1960er Jahren bei. Einzigartig in diesem unternehmerischen Verwendungskontext des Mediums Film war der Fip-Fop-Club von Nestlé – ein Filmclub für Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren, der die ersten Film- und Kinoerfahrungen mehrerer Generationen in der Schweiz nachhaltig geprägt hat.189 Der Fip-Fop-Club wurde 1936 von Karl Lauterer, dem Werbechef von Nestlé, gegründet und war bis 1959 in Betrieb.190 Die Zwillinge Fip und Fop – sie ein braves Mädchen und er ein Lausbub – waren Werbefiguren, die der Zürcher Grafiker Hans Tomamichel 1932 zur Promotion von Cailler-Kohler-Schokolade entworfen hatte. Anlass zur Gründung des Filmclubs gab wiederum die Weltwirtschaftskrise: Nestlé beabsichtigte, die Kinder «als Konsumenten zu interessieren» und sie «zu späteren Kunden zu erziehen», um den Absatz von Schokolade auf dem Heimmarkt zu fördern.191 Dazu nutzte das Unternehmen das Kinoverbot für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, das in den meisten Kantonen Kinder faktisch vom Besuch kommerzieller Kinoprogramme – auch in Begleitung von Erwachsenen – ausschloss. Zugang zum Kinderpublikum hatten deshalb nur nicht-kommerzielle Anbieter wie die Schulen, der SSVK sowie Verbände und Unternehmen der Privatwirtschaft. Kinder waren, wie schon das Beispiel von Maggi zeigte, ein stark umworbenes Zielpublikum, das aber nur mit Zustimmung von Eltern beziehungsweise Lehrerschaft erreichbar war. Deshalb konzipierte Nestlé den Fip-Fop-Club nach dem Vorbild der Pfadfinder als ‹Jugendbewegung›, die auf bürgerlichen Idealen und humanitären christlichen Werten basierte. Der Club übernahm Erziehungsaufgaben, indem Warenkunde mit Staatsbürgerkunde und der Einübung von geschlechtsspezifischem Sozialverhalten verknüpft wurde. So ermahnte Nestlé die jungen Clubmitglieder im Zweiten Weltkrieg, ihre Pflichten gegenüber Eltern und Staat wahrzunehmen und Mitgefühl mit den Kriegsopfern zu empfinden. Das unternehmerische Erziehungsprogramm kam bei El-tern, Lehrern und staatlichen Autoritäten gut an: General Henri Gui-san, Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg, liess sich 1940 zum Ehrenmitglied des Fip-Fop-Club ernennen, um die Kinder zu ermuntern, «gute Patrioten zu werden» (Abb. 32).192

Der Club war nach dem Modell einer Familie organisiert, wobei Werbechef Lauterer höchstpersönlich als «geistiger Mittelpunkt» und «Götti» (Grand Parrain) firmierte (Abb. 33). Unterstützt wurde er von einer Reihe von Fip-Fop-‹Tanten› und -‹Onkeln›. Der Club basierte auf drei Pfeilern: Erstens lagen den Schokoladen von Nestlé, Peter, Cailler und Kohler (NPCK) Bildersammelmarken zum Einkleben in die aufwendig produzierten Nestlé-Sammelalben bei, die lehrreiche Themen aus verschiedenen Lebens- und Wissenschaftsbereichen abdeckten. Kinder tauschten die Sammelbilder offenbar vorwiegend auf dem Schulhof untereinander aus. Zweitens verfügte der Club über eine Zeitschrift, die in der Regel monatlich in einer Auflage von 120 000 Exemplaren (Stand 1949) in deutscher (Fip-Fop Zeitung), französischer (Nouvelles Fip-Fop) und ab 1948 auch in italienischer Sprache erschien. Darin adressierte Lauterer die Kinder mit persönlichen Briefen, die er mit «Euer Götti» signierte. Dritter und wichtigster Pfeiler waren die Filmvorführungen. Für den einmaligen Beitrag von einem Franken (vorerst fünfzig Rappen) konnte jedes Kind ab fünf Jahren dem Club beitreten und erhielt als Zeichen der Mitgliedschaft das Fip-Fop-Club-Abzeichen. Nestlé nutzte etwa die Landesausstellung in -Zürich 1939 zur Rekrutierung von Mitgliedern: Im «Kinderparadies» betreute das Unternehmen den Nachwuchs der Ausstellungsbesucher für einen Franken inklusive Verpflegung. Den Kindern – rund 78 000 waren es insgesamt193 – wurden allerlei Attraktionen geboten: Trudi Gerster als «Märchenfee» am Seerosenteich,194 ein Miniatur-Klausenrennen, Bastel- und Kinderstuben, ein Kasperlitheater, Filmvorführungen und ein Fip-Fop-Clubhaus.195

(…)

FipFopZuschauer
Fip-Fop-Publikum im Kino Oriental in Vevey, 26.10.1938.
Basler Zeitung, 29. Januar 2012
Professional Production 3/2012
Film & TV Kameramann, 20. März 2012
Historical Journal of Film, Radio and Television, 29. November 2013

«Das Buch ist eine wissenschaftliche Arbeit und kommt um Erläuterungen zu Methode und Forschungsstand nicht herum – gut lesbar ist es trotzdem. Und die Abbildungen historischer Filmplakate lassen ahnen, was diese frühen Filme zur nationalen Identitätsbildung beigetragen haben.» Basler Zeitung

«Yvonne Zimmermann hat etwas geschrieben, was goldwert ist, allgemeine Geltung besitzt, ja die Grundlage zu jeder sinnvollen und kritischen Betrachtung bildet und für zukünftige Bemühungen auf diesem Feld unumgänglich ist. Es ist zu wünschen, dass diesem Schweizer Beispiel anderswo gefolgt wird, die Studien weiter vertieft, denn der Gegenstand lohnt sich.» Professional Production

«Yvonne Zimmermann rüttelt erfolgreich an Vorurteilen, bestimmt mit Klarheit die Begriffe neu, erweitert die bisher arg enge Sicht der Filmwissenschaft, rodet sozusagen ein frisches Feld für die Forschung. Das Ergebnis ist ein beispielhaftes Werk und liest sich mit Gewinn und mit Vergnügen.» Film & TV Kameramann

«Indeed, the volume provides extraordinary, new insights, broad and detailed, and presented in elegant language. The book makes a key contribution to overcome terminological contradictions, in a fresh approach.» Historical Journal of Film, Radio and Television
Captcha

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