Gräben und Brücken
Elisabeth Kaestli

Gräben und Brücken

Freundschaften vor und nach den Kriegen im Balkan. 16 Porträts

272 Seiten, gebunden
1., Aufl., November 2004
SFr. 36.–, 36.– €
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978-3-85791-464-5

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Schlagworte

Balkan
     

Auf Lese- und anderen Reisen durch das ehemalige Jugoslawien sind Elisabeth Kaestli Frauen und Männer unterschiedlichen Alters mit verschiedensten Berufen begegnet. Einige von ihnen haben ihr erzählt, wie es war, als Menschen zu Feinden wurden, die vorher zusammengearbeitet hatten. Oder wie Freundschaften stand hielten. Immer zwei der Befragten kennen sich, denn die eine Person schlug jeweils eine zweite vor, die einer anderen Volkgruppe angehört. Dadurch sind Geschichten über die ethnischen Grenzen hinweg miteinander verbunden. Die Geschichten erzählen anhand von unzähligen Episoden und Alltäglichkeiten, wie sich Entfremdung, gegenseitiges Misstrauen, Angst und Hass ausbreiten und wie mutige Menschen dem etwas entgegenzusetzen versuchen. Und sie zeigen, wie vielschichtig die Realität ist und wie wenig Schwarz-weiss-Muster der Wirklichkeit gelebten Lebens entspricht.

Elisabeth Kaestli
© Lisa Schäublin

Elisabeth Kaestli

Elisabeth Kaestli, geboren 1945 in Frutigen BE, aufgewachsen in Biel / Bienne. Dolmetscherstudium in Genf und Triest. Ab 1973 als Journalistin für verschiedene Medien tätig. Seit 2000 freischaffende Journalistin und Autorin.

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Einleitung

Wie konnte es in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts zu den Kriegen im Balkan kommen? Es mangelt nicht an Publikationen, die dieser Frage aus verschiedenen Blickwinkeln nachgegangen sind. Mich interessierte neben der historischen und der politischen Analyse die individuelle, persönliche Ebene dieses Dramas. Als ich in den 1990er Jahren für mein Buch «Frauen in Kosova – Lebensgeschichten aus Krieg und Wiederaufbau» recherchierte, erzählten die kosova-albanischen Frauen meist auch von serbischen Nachbarn, Freunden, Arbeitskollegen. Es war für mich schwer verständlich, dass sich solche Kontakte in Feindschaften umwandelten, dass Krieg zwischen Nachbarn möglich geworden war. Auf der anderen Seite hörte ich auch von Freundschaften, die trotz allem Stand gehalten hatten. Dies hat mich bewogen, dem Zwischenmenschlichen mehr auf den Grund zu gehen, zu fragen, wie sich die Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Volksgruppen durch den Balkankonflikt verändert haben. Auch diesmal lasse ich betroffene Menschen direkt zu Wort kommen, um durch ihre Erlebnisse zu erfahren, was geschah und geschieht.

Auf den vielen Reisen, die mich als Journalistin seit 1997 ins ehemalige Jugoslawien geführt haben, sind wertvolle Beziehungen zu Menschen verschiedener Ethnien entstanden. Von diesen Kontakten bin ich ausgegangen, um Leute zu finden, die bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen, und dabei auf ihr persönliches Verhältnis zu anderen Volksgruppen einzugehen.

Die ersten Interviewpartnerinnen und -partner habe ich gebeten, mir eine Person aus ihrem Bekanntenkreis vorzuschlagen, die einer anderen Volksgruppe angehört. Auf diese Weise sind jeweils zwei Geschichten verbunden und sechzehn Porträts von acht ethnisch gemischten Dialogpaaren entstanden. Dabei gestaltete sich die Suche besonders in Kosovo nicht ganz einfach, denn die Kriegswunden sind noch längst nicht verheilt. Die Loyalität zur eigenen Volksgruppe wurde vor und während dem Krieg immer stärker und mit der Zeit fast eine Zwangssolidarisierung, die auch nach dem Krieg weiterbesteht. So war es weniger die Angst vor dem «Feind» als vielmehr die Befürchtung, von der eigenen Volksgruppe als Verräter und Verräterin abgestempelt zu werden, die einige Leute von einem Gespräch abhielt.

Noch herrschen überall im ehemaligen Jugoslawien starke Vorurteile gegenüber anderen Ethnien. Und ebenso verbreitet ist Blindheit gegenüber Verbrechen, die Leute von der eigenen Seite begangen haben. Politiker und Medien verbreiteten zu Propagandazwecken so lange und eindringlich Hetze und Lügengeschichten über Angehörige anderer Nationalitäten, dass es für die Bevölkerung schwierig war, sich einigermassen objektiv zu informieren. Wer es sich einfach machte, glaubte der eigenen Seite vorbehaltlos, und alles, was von der Gegenseite kam, wurde als Lüge abgetan. Wie viel Zeit verstreichen muss, bis Propagandalügen aufgedeckt werden und jede Seite der Realität ins Auge sehen kann, können wir erahnen, wenn wir an die späte Aufarbeitung der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg denken.

Mit der Auswahl der porträtierten Leute im Buch wird – mindestens zum jetzigen Zeitpunkt – nicht die Mehrheitshaltung wiedergegeben, denn es sind Menschen, die weniger nationalistisch denken als viele andere. Sie wollen mit anderen Volksgruppen zusammenleben und sind nicht für ethnisch reine Staaten. Es sind Pioniere, deren Haltung hoffentlich immer mehr Nachahmung findet. Überall im ehemaligen Jugoslawien sind die Spannungen zwischen ehemaligen Kriegsgegnern noch gross und die relative Ruhe ist sehr fragil. Umso mehr erfordern alle Bemühungen für die Zusammenarbeit über ethnische Grenzen hinweg Unterstützung. Sie soll nicht kolonialistisch und besserwisserisch von aussen aufgezwungen werden, aber wo sie stattfindet, sollte sie gestärkt und anerkannt werden. In Kosovo ist diese Zusammenarbeit zusätzlich durch die Mehrsprachigkeit erschwert. Diese zeigt sich auch darin, dass viele Ortschaften sowohl einen serbischen wie einen albanischen Namen haben. In den folgenden Texten steht in der Regel der von den interviewten Personen verwendete Name. Die ehemalige autnomome Provinz heisst für die Albaner «K0sova», die serbischen Behörden verwenden seit 1989 wieder den Namen «Kosovo und Methoija» aus der jugoslawischen Verfassung von 1968, und die UN-Verwaltung in Kosovo, UNMIK, schreibt «Kosovo».

Die Interviewten haben sich mutig exponiert. Die einzelnen Texte sind vor der Veröffentlichung in die jeweilige Sprache der Gesprächspartner und -partnerinnen übersetzt und von diesen gelesen worden. Es war mir wichtig, ihnen die Möglichkeit zu geben, nicht nur allfällige Ungenauigkeiten zu korrigieren, sondern auch Passagen zu streichen, die ihnen für eine Veröffentlichung zu heikel schienen. Die Korrekturen der Interviewten haben mir noch einmal deutlich gezeigt, wie brüchig das Verhältnis zwischen den Ethnien ist und wie stark die Loyalität zur eigenen Gruppe. Wer sich zwischen die Fronten stellt, wer Brücken baut oder der eigenen Seite gegenüber kritisch ist, riskiert Schwierigkeiten. Beispielsweise erlaubt sich bis heute kaum ein Kosova-Albaner, etwas Negatives über die kosova-albanische Befreiungsarmee UÇK zu sagen. Und auf der kosovo-serbischen Seite kann es als Verrat gelten, zu sagen, man habe angesichts der Vertreibung der albanischen Bevölkerung Mitleid oder Scham empfunden. Auch in Serbien und in Bosnien und Herzegowina erzählten die Interviewten nicht alles, was sie zu sagen hätten. Diese Selbstzensur ist verständlich und legitim. Trotz Lücken erzählen uns die Menschen in diesem Buch viel über das Verhältnis zwischen Menschen verschiedener Ethnien. Es entsteht ein Mosaik aus ihren Erfahrungen und Meinungen, das über das Persönliche hinausweist und ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden lässt. Schwarz-Weiss-Bilder, wie vielleicht auch wir sie aus den Medien übernommen haben, erhalten Zwischentöne. Meine Überzeugung, dass ähnliche Konflikte in Westeuropa nicht mehr möglich sind, ist längst ins Wanken geraten. Ich hoffe nur, durch all die Begegnungen und Erzählungen hellhöriger auf die gefährlich schleichenden Anfänge von Ausgrenzung und Verhetzung «des Anderen» geworden zu sein.

Nachtrag

Am 17./18. März 2004 kam es in Kosovo zu gewalttätigen Ausschreitungen, die sich gegen Serben, Ashkali und Roma und gegen die UNMIK richteten. Den Nährboden, auf dem die angestaute Wut von Albanern seit langem wuchs, bilden die Arbeitslosigkeit von über der Hälfte der Bevölkerung, Enttäuschung über die in weite Ferne gerückte Unabhängigkeit, das als kolonialistisch empfundene Verhalten der UNMIK und sicher auch viele unverarbeitete Kriegstraumata. Die internationale Gemeinschaft, aber auch die gemässigten kosova-albanischen Menschen reagierten schockiert und entsetzt auf diesen Gewaltausbruch. Kleine Fortschritte auf dem Weg für einen befriedeten Kosovo schienen auf einen Schlag zunichte gemacht. Wenn es der internationalen Gemeinschaft und den lokalen provisorischen Behörden nicht sehr rasch gelingt, in Kosovo entschiedener für Recht und Sicherheit zu sorgen und der jüngeren Generation eine ökonomische und eine politische Zukunftsperspektive zu geben, drohen weitere Gewaltausbrüche, die Kosovo und die umliegenden Länder destabilisieren.
Schweizer Bibliotheksdienst, 22. November 2004
ekz, Februar 2005
Zürcher Unterländer, 19. März 2005
Wendekreis, März 2005
RRJETA Newsletter 10
Der Bund, 4. Juni 2005
an.schläge, juli/august 2005
Die Rheinpfalz, 22. Oktober 2005

«Faszinierend durch die Fülle an Details des menschlichen Lebens, die Kaestli über Jahre zusammengetragen hat.» an.schläge

«Es entsteht ein teilweise widersprüchliches Bild von Nationalismus, Verblendung und Hetze, aber auch vom aufrechten Gang und von Freundschaften über ethnische Grenzen hinweg. Die Autorin nimmt sich hierbei sehr zurück und schafft auf diese Weise ein vielschichtiges sensibles Porträt der Region ‹Ex-Jugoslawien›.» RRJETA

«Nach dem grossen Erfolg von ‹Frauen in Kosova› erinnert die Autorin in diesem Band neben der historisch-politischen vor allem die individuell-persönliche Ebene im grossen Drama am Ende des 20. Jh. in Europa, dem Balkankonflikt. Ein wichtiges Buch zu einem Thema, das auch für die Schweiz aktuell bleibt.» Schweizer Bibliotheksdienst
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