Montreux ‒ Missolunghi ‒ Astapowo
Michail Schischkin

Montreux ‒ Missolunghi ‒ Astapowo

Auf den Spuren von Byron und Tolstoj: Eine literarische Wanderung vom Genfersee ins Berner Oberland

Übersetzt von Franziska Stöcklin

320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
August 2002
vergriffen
978-3-85791-407-2
     
In sieben Tagen vom Genfersee ins Berner Oberland

1816 entflieht Byron – nach dem Skandal um seine Inzestliebe zu seiner Halbschwester Augusta – trotzig an den Genfersee. 1857 sieht Tolstoj in Paris, wie ein Mensch guillotiniert wird, und flieht schockiert in die Schweiz. Beide wandern sie vom Genfersee ins Berner Oberland, und beide führen sie dabei Tagebuch, über Landschaft, Tod, Liebe, die Schweiz. 2001 wandert Michail Schischkin auf ihren Spuren dieselbe Strecke. Er liest ihre Tagebücher und führt ein eigenes. Seine Füsse wandern, seine Gedanken wandern.

Herausgekommen ist ein überraschendes Buch aus persönlichen Erinnerungen und kulturhistorischen Fakten. In sieben Wandertagen entstehen ein Buch, eine Schweiz und eine Welt, Schischkins Welt. Ein reiches Buch über zwei ungleiche Länder, über Byron und Tolstoj, Tell und Stalin, das Berner Oberland und Tschetschenien, Touristen, Flüchtlinge, Literaten, Terroristen, Denkmäler, Berge – über Wandern und Leben, Tod und Literatur.

Michail Schischkin
© Limmat Verlag

Michail Schischkin

Michail Schischkin, geboren 1961 in Moskau, Studium der Germanistik und Anglistik an der Pädagogischen Hochschule in Moskau, Arbeit als Journalist bei der Jugendzeitschrift Rovesnik, Lehrer für Deutsch an einer Moskauer Schule, Übersetzer bei einer deutschen Firma.

1994 Preis «für das beste Debüt des Jahres» für seinen Roman «Wsech oschydaet odna notsch» («Omnes una manet nox»)

1995 Übersiedlung in die Schweiz/Zürich, Arbeit als Russischlehrer und Übersetzer und Lehrer.

In der Schweiz sind u.a. sein Buch «Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer» sowie sein zweiter Roman «Wsjatie Ismaila» («Die Eroberung von Ismail») entstanden, daneben schrieb er Artikel für die «Neue Zürcher Zeitung».

Im Dezember 2000 erhielt Michail Schischkin für seinen Roman «Wsjatie Ismaila» den renommierten russischen Booker-Preis für den besten Roman des Jahres, 2002 wird er für Montreux—Missolunghi—Astapowo von der Stadt Zürich mit einem Werkjahr ausgezeichnet.

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Franziska Stöcklin

Franziska Stöcklin

Geboren 1961 in Teheran/Iran, Studium der Germanistik, Slawistik und englischen Literatur in Zürich, von Herbst 1988 bis Sommer 1989 sowie Feb. 1992 bis Mai 1995 wohnhaft in Moskau, 1995 Geburt Konstantins.

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Anreise

Es gibt Namen, die sich reimen: Goethe und Schiller, Frisch und Dürrenmatt, Nietzsche und Dostojewskij … Und es gibt Namen, die in der Geschichte, in der Literatur, im alltäglichen Bewusstsein keinerlei Berührungspunkte aufweisen, zum Beispiel Byron und Tolstoj. Oder Nietzsche und Herzen. Goethe und Klee.
Anders in der Schweiz. Hier haben sich auf den seltsamsten Wegen Schicksale und Bücher, Gedanken und Welten gekreuzt.
Was könnte also den dämonischen Romantiker Byron und den großen Lehrmeister Tolstoj verbinden? Beide waren sie 28 Jahre alt, als sie an den Genfersee kamen. Und beide gingen sie in die Berge wandern, liefen die genau gleiche Strecke von Montreux über den Col de Jaman ins Simmental, von dort nach Interlaken und Grindelwald. Sie ließen ihren Blick über dieselben Berggipfel schweifen, traten vielleicht auf dieselben Steine, übernachteten vermutlich in denselben Häusern, ruhten sich im Schatten derselben Bäume aus. Und beide schrieben ein Tagebuch, von deren Eintragungen ein direkter Weg zu ihren späteren Texten führt.

Genau das hat seinen besonderen Reiz: Nicht in ihrem mit Bedacht ausgearbeiteten gesammelten Werk zu stöbern, sondern ihnen über die Schulter zu blicken, ihre Fußstapfen nachzuvollziehen, ihre Berge anzuschauen, durch Wörter und Steine Berührungspunkte mit ihnen und noch mit vielen anderen mehr zu finden, die durch ihre Texte, ihre Pinsel, ihre Noten den Tod besiegt haben.

Es ist schon eine Weile her, dass ich mich auf diese Wanderung vorbereitet habe: Ich habe in den verschiedensten Briefen und Tagebüchern gewühlt, Zitate gesammelt, in alten Büchern nach Hinweisen darauf geforscht, wie eine Bergwanderung vor hundertfünfzig Jahren wohl verlaufen sein mag. Ich wollte mich ihnen nähern, es ihnen getreu in allem gleichtun, sogar wo es nur um Bagatellen geht, wollte zum Beispiel erfahren, was man damals anzog, was man mitnahm. In einem alten Reiseführer, dem sogenannten Taschenbuch für Reisende im Berner Oberland (Aarau, 1829), fand ich folgende nützliche Ratschläge: «Der Fußreisende braucht einen Hut mit breitem Rande; einen grünen Doppelflor, um sich damit, beim Überwandern der Schneefelder oder Gletscher im Sonnenschein, das Gesicht zu bedecken; weiße Hosenträger von Ziegenhaar (ja nicht von Leder); weit hinaufreichende, starke Handschuhe von roher grauer Leinwand oder Nanking; Hemden mit kleinen Perlmutterknöpfen auf der Brust und am Halse, um nicht von der Sonne verbrannt zu werden; einen starken, ziemlich langen Stock, ohne Knoten und mit einer Stahlspitze; einen Kragen oder kleinen Mantel von Wachstaffent, um sich gegen den Regen zu schützen; eine Korbflasche, mit Kirschwasser oder Himbeeressig angefüllt; 1/2 Pfund Zucker und Tee; Steck- und Nähnadeln; weißen und schwarzen Zwirn; etwas starken Bindfaden; einen Kamm; ein Rasiermesser; einen kleinen Spiegel in der Brieftasche; ein hörnernes Tintenfass mit einem Stachel; zwei Enden Wachslicht, um die Grotten besuchen zu können; endlich ein paar hundert Schuhnägel.»
Ich hatte so wandern gehen wollen, wie sie es damals taten, aber es stellte sich heraus, dass ich nichts von alledem habe, ich besitze weder Hosenträger aus Ziegenhaar noch einen kleinen Mantel aus Wachstaffent, geschweige denn ein paar hundert Schuhnägel. Dafür habe ich mein Notebook mitgenommen, in das ich gerade jetzt das Vorwort zu meinem Wanderbuch tippe, dem man eine schlechte Prognose gestellt hat: Wozu noch eins, es gibt doch schon Dutzende! Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, bin auch jetzt noch um eine Antwort verlegen.
Der Zug, der mich zum Genfersee bringt, ist gerade wieder in einen Tunnel gerast. Die ältere Dame, die am gegenüberliegenden Fenster sitzt und angeregt mit jemandem per Handy gesprochen hat, flucht jetzt, da die Verbindung unterbrochen worden ist.
Als Tolstoj mit der Eisenbahn von Paris nach Genf reiste, schrieb er seinem Dichterfreund Turgenjew: «Das habe ich ausgezeichnet gemacht, dass ich dieses Sodom verlassen habe. Fahren auch Sie um Gottes Willen irgendwohin fort, aber bloß nicht mit der Eisenbahn. Für eine Reise ist die Eisenbahn, was für die Liebe das Bordell ist: Sie ist genauso bequem, aber auch genauso unmenschlich maschinell und tödlich eintönig.»
Der Zug verringert die Geschwindigkeit, ganz langsam fährt er durch den Tunnel, kriecht beinahe. Im Licht der Lampen schimmern die Tropfen auf den Scheiben. Diese Septembertage habe ich schon seit langem für die Wanderung eingeplant, offenbar hat der Regen das gleiche getan. Ich gebe nicht klein bei. Nun denn, mal schauen, wie hartnäckig der Regen ist.
Der Zug rattert aus dem Tunnel heraus, eine mit Graffiti bemalte Wand zieht vorbei, zwischen kalligrafischen Farbenorgien sticht ein schlichtes «Albaner raus!» hervor.

Mich fasziniert vielleicht das Genre Wanderbuch allein schon deshalb, weil es in Russland, im Gegensatz zum Westen, eigentlich kaum vorkommt. In jeder Buchhandlung hier gibt es eine eigens für solche Bücher bestimmte Ecke. Auch das kulturhistorische Phänomen des Wanderns, dieses Zu-Fuß-Unterwegs-Seins, um sich wieder und wieder an den Aussichten zu erfreuen und zu erholen, ist in meiner Heimat unbekannt. Vielleicht rührt das daher, dass, wenn man in Russland irgendwohin geht (oder besser reist, denn da kann man, wie Gogol sagte, drei Jahre lang mit der Kutsche fahren und kommt doch nirgends an), es keinen Unterschied macht, ob man zwanzig oder dreißig Kilometer nach rechts oder links abbiegt, die Aussicht ändert sich nicht, die Landschaft bleibt sich die gleiche, der Wald, der Himmel ist der gleiche. Und auch nach hundert oder zweihundert Kilometern hat sich nichts geändert.
Das erste in Russisch verfasste Wanderbuch nach westlichem Muster stammt vom Schriftsteller und Historiker Nikolaj Karamsin, bei seinen «Briefen eines russischen Reisenden» handelt es sich allerdings um die Beschreibung seiner Reise durch Westeuropa, darunter auch die seiner Bergwanderung im Berner Oberland im Jahre 1789. Er zählte damals nicht mehr als zwanzig Jahre und sog mit dem Eifer eines wissbegierigen Schülers die kulturelle Luft Westeuropas ein. Damals waren Wanderungen in die Alpen mit Rousseaus Lettres de deux amants habitants d’une petite ville au pied des Alpes (Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen) im Rucksack (das ja im Grunde das erste Wanderbuch ist) gerade der letzte Schrei.
Rousseaus leidenschaftlicher Liebesroman, der 1761 erschienen war, brach die alte, verkrustete Weltanschauung auf. Seine Julie ou la Nouvelle Héloïse (Julie oder die neue Heloise) ist wohl eines der revolutionärsten Bücher der Menschheit, mit dem die Generation derer, die in Frankreich die Revolution durchführten, großgeworden war. Mit diesem Buch wurden die Berge, wo es den Menschen mit seiner kranken, gegen ihn selbst gerichteten Kultur nicht gibt, ja wo keine Zivilisation stört, zu einem Objekt der Anbetung. Sie erhielten eine neue Funktion: Sie wurden zum Schutzwall für Harmonie, zu Mauern, um die ursprüngliche Natur und Einfalt zu schützen, eine urtümliche, noch durch nichts zerstörte Glückseligkeit des Naturzustands.
Die alte Religion hatte sich erschöpft, ein neuer Glaube wurde geschaffen, oder auch eine neue Häresie, je nachdem, wie man es sehen möchte. Rousseau schrieb seine Les rêveries du promeneur solitaire (Träumereien des einsamen Spaziergängers). Und damit haben wir eines der Schlüsselwörter des neuen Kults: der einsame Wanderer, «le promeneur solitaire», er ist einsam, unabhängig, empfindsam, schwärmerisch.
Es war eine Religion für die Intellektuellen, für die Philosophen. Der Philosoph wurde aus dem Arbeitszimmer hinaus in die Natur versetzt, er verlor seine gewohnten vier Wände um sich herum, sein Arbeitszimmer weitete sich aus und nahm alles auf: Berge wurden zu Bücherregalen, Wolken zu Büchern, die Wiese zum Stuhl. Der Natur wurde eine andere Rolle zugeteilt, man suchte in ihr Spiegelungen des eigenen Gemütszustands, sie wurde zur Metapher für die menschliche Seele.
Karamsins Buch rief in Russland einen regelrechten Kult hervor. Seine Nacheiferer nun brachen nicht mehr mit einem Band Rousseau, sondern mit einem von Karamsin zum Wandern auf, allerdings auch sie in die Alpen. Den russischen Weiten konnte man keinen kulturellen Genuss abgewinnen, sich zu Fuß über russische Ebenen und durch endlose Wälder zu schleppen, empfand man als ein unfehlbares Merkmal von Armut. Ebenso hatten auch im Westen Fortbewegung, Pilgerschaft, Reisen bis ins 18. Jahrhundert hinein den Beigeschmack von Unglück, Bösem, Gefahr. Kaum je hatte man sich aus freien Stücken in ferne Gegenden begeben, entweder zwangen Krieg oder Verbannung dazu, oder die risiko- und gefahrenreiche Kaufmannstätigkeit verlangte danach (so stammt das englische Wort «travel» von «travail» ab, von «Arbeit»). Mit der Verbesserung der Straßen, dem Bau neuer, bequemerer Kutschen und schicker Hotels, den besseren Schutzvorkehrungen gegen Räuber und Überfälle, kurz: mit der neuen Reiseinfrastruktur war Reisen angenehm geworden, es hatte sich allmählich eine Art Tourismus entwickelt, der zu einem Privileg der Reichen geworden war. In Russland sah man nach wie vor nur die Mühsal und das Beschwerliche, wenn man lange Strecken zu Fuß zurückzulegen hatte. Man reiste in Kutschen und per Schiff und zum Vergnügen, während der arme Pöbel seine Beine schinden musste, da er es sich nicht anders leisten konnte. Nur die Begüterten konnten das Wandern genießen, und diesen Spaß gönnte man sich in Europa, in den Alpen.
Vermutlich ist die Jagd das russische Äquivalent zum westeuropäischen Wandern, bei dem ein freier Intellektueller, unbelastet von Sorgen um das tägliche Stück Brot, in der Natur herumspaziert und sich philosophischen Gedanken hingibt. Richtigerweise müsste man sagen, dass das erste russische Wanderbuch Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers waren. Der Schriftsteller streifte mit dem Gewehr durch russische Wälder und beschrieb die Schönheit der Natur, doch diese Bilder gingen zwangsläufig in ungeheuerliche Schilderungen der russischen Leibeigenschaft über. Offenbar ist das eine Krankheit, an der die russische Literatur seit ihrer Geburt leidet: nicht über das zu schreiben, was erwartet wird.
Von dem wandernden Schriftsteller erwartete man, dass er im Einklang mit der Natur stünde, aber was herauskam, war ein Buch darüber, dass er mit der Welt quer lag. Oder die Welt mit ihm.

Hinter der Scheibe leuchtet schon eine Weile der Lac Leman in den durch die Wolken hindurchbrechenden Sonnenstrahlen auf. «Mesdames et Messieurs, nous arrivons à Lausanne. Liebe Fahrgäste, unser Zug wird in wenigen Minuten in Lausanne eintreffen.» Ich werde jetzt nach Montreux umsteigen und mich dort in einen Wanderer verwandeln.

P.S. Bücherbeilage, 05. Dezember 2002
Der Bund, 12. Dezember 2002
Tages-Anzeiger, 13. Dezember 2002
Neue Zürcher Zeitung, 09. Januar 2003
Süddeutsche Zeitung, 12. März 2003
Der Tagesspiegel, 19. März 2003
Die Zeit, Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse, März 2003
Berliner Literaturkritik, 23. Mai 2003


«‹Montreux—Missolunghi—Astapowo› ist weniger ein Wanderbuch als eine Landkarte des menschlichen Denkens.» Tages-Anzeiger

«Seine siebentägige Reise ist auch ein Marsch auf Europa zu: eine von der russischen Wildnis abgesetzte Welt überschaubarer Bedeutungen und geregelter Beziehungen.» Der Tagesspiegel

«Seine Hauptfiguren sind Lord Byron und Leo Tolstoj, doch hinter ihnen steht der mächtige Schatten von Jean Jacques Rousseau. Das Buch bietet nicht nur seltenes literarisches Material (auf jeder Seite findet man kostbare Hinweise, Anekdoten und Analysen), sondern auch die subtilen Betrachtungen zur realen Schweiz der Schweizer und zur idealen Schweiz der Literatur sowie die persönlichen Erinnerungen des in der Schweiz lebenden russischen Autors an seine reale und literarische russische Heimat.» Die Zeit

«Michail Schischkin hat, fasziniert vom intellektuellen Wanderbuch, ein eigenes, ganz besonderes Buch für geistig-kulturelle Tourengänger geschaffen. ... Wir erfahren Biographisches, aber auch Zeitgeschichtliches, Kulturelles und Politisches aus dem Leben und der Zeit der wandernden Vorläufer. Und hintergründig? Schischkin eröffnet neben den historischen Bezügen zu Tolstoj und Byron eine zweite Ebene, einen sehr persönlichen, sehr analytischen und sehr kritischen Diskurs Schweiz-Russland. ... Schischkin ist genau in seiner Wahrnehmung, aber auch schonungslos in der Zuspitzung der Bilder, die er heranzieht, dabei gleichwohl ruhig und differenziert als Kommentator. ... Schischkin will sich nicht beliebt machen. Er kennt kein Anbiedern mit dem Gastland. Auch wenn er die Schweiz lieb gewonnen hat, hält er sich daran, dass nur ein kritischer Mensch wirklich ein guter Patriot ist. vom Rauschen des Reichenbachfalls wird Schischkin nicht der Sinne beraubt, sondern es führt ihn weiter zu Sartre, zur Angst vor dem sich Hinabstürzen und zum Elend einer russischen Drogenkonsumentin.» P.S.

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