Mich hat niemand gefragt
Dorothee Degen-Zimmermann

Mich hat niemand gefragt

Die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann

264 Seiten, gebunden
2., Aufl., Januar 2000
SFr. 34.–, 19.– € / eBook sFr. 19.90
exklusiv als E-Book erhältlich
978-3-85791-296-2

als ePub herunterladen

Gertrud Mosimann (1916–2001) hat von Anfang an schlechte Karten: Als uneheliches Kind kommt sie in Zürich zur Welt und wächst bei verschiedenen Pflegefamilien und in einem Heim auf. Und von Geburt an sieht sie fast nichts. Aber beharrlich führt sie ihr schwieriges Leben in den Nischen, die die Gesellschaft ihr bieten kann.

Dieses Leben ist bis in die achtziger Jahre hinein von Armut geprägt, aber sie klagt nicht, und sie verbittert nicht. Dorothee Degen-Zimmermann schildert im Gegenteil eine zähe Frau voll Schalk und Lebenslust. Nüchtern und lebendig erzählt sie die Geschichten, die Gertrud Mosimann widerfahren sind. Gleichzeitig spiegelt sich in diesem Leben auch ein Stück unbekannte Schweizer Geschichte.

Dorothee Degen-Zimmermann

Dorothee Degen-Zimmermann, geboren 1946 in Olten, Ausbildung zur Primarlehrerin, arbeitet als freie Journalistin. Sie lebt in Zürich.

mehr...

Ich meine, damit sei ich frei ...

Ich meine, damit sei ich frei, aber der Amtsschimmel bockt noch einmal. Als ich einige Wochen später an einem Montagabend von der Werkstatt nach Hause komme, steht Herr Herzbach in der Tür und winkt mir mit einer Karte.«Sie müssen vor den Gemeinderat, Töchterchen!»

«Ich? Warum denn?»

«Sie haben doch den Muster als Vormund.»

«Stimmt gar nicht!»

Ich werde rot vor Zorn. Was gehen meine Angelegenheiten den Herrn Herzbach an? Ich reisse die Karte an mich und schliesse mich in mein Zimmer ein. Mit der Lupe entziffere ich den kleingedruckten Text. Es ist eine amtliche Vorladung vor den Gemeinderat. Der Termin ist der 28. Februar, 20 Uhr – mein Gott, das ist ja heute! Die haben sich nicht sonderlich beeilt mit der Zustellung. Ich suche nach dem Datum des Poststempels und stelle fest, dass die Karte nicht abgestempelt ist. Überhaupt, amtliche Vorladungen müssen doch vom Weibel zugestellt werden. Ich öffne noch einmal meine Zimmertür.

«Herr Herzbach, woher haben Sie die Karte?»

«Sie war im Briefkasten, ich glaube, Frau Pellanda hat sie gebracht.»

Schnell kämme ich mich und ziehe eine frische Bluse und meinen besten Jupe an. Es reicht gerade noch, dass ich bei Frau Pellanda, die im andern Flügel des Hauses wohnt, nachfragen kann, bevor ich auf der Gemeinde vortraben muss.

Das Gemeindehaus ist im Dorf oben, ich habe Mühe, im Dunkeln den Weg allein zu gehen. So kurzfristig kann ich niemanden um Begleitung bitten. Ich gehe auch lieber allein, die Sache ist mir peinlich genug. Lange suche ich vergeblich nach dem Eingang – nur jetzt niemanden fragen müssen! – und öffne die Tür, gerade als es von der nahen Kirche acht Uhr schlägt.

Ich höre Stimmen, folge ihnen. Die Tür des Sitzungszimmers steht offen. Schüchtern nähere ich mich, da kommt mir ein etwas untersetzter, kräftiger Fünfziger mit Brille und Glatze entgegen. Er stellt sich mit «Kappeler» vor – aha, der Gemeindepräsident, denke ich – und bittet mich, noch ein wenig zu warten, sie würden mich dann rufen, wenn mein Traktandum an der Reihe sei. Damit schliesst sich die Tür, und ich stehe allein im schwach beleuchteten Gang. Ich ärgere mich, dass man mich so hergesprengt hat und mich dann warten lässt. Und überhaupt, wie man mich herzitiert hat … Unruhig wandere ich im Gang hin und her, bleibe ab und zu in der Nähe der Tür stehen, um auf die Stimmen zu lauschen. Jetzt lachen sie, ich schrecke auf, ich will nicht als Horcherin hier ertappt werden, auch wenn ich nichts verstanden habe. Ich trete ans Fenster, schaue in die Dunkelheit hinaus. Es schlägt schon Viertel nach acht. Während ich meine Wanderung wieder aufnehme, wächst mein Unwille. Was die sich alles erlaubt haben mit mir, ich werde mir nichts mehr bieten lassen. Vielleicht ist es gar nicht so übel, dass ich noch ein bisschen Zeit habe, mich zu sammeln, es war ja alles so hektisch und aufregend und …

«Fräulein Mosimann, bitte.»

Die Tür des Sitzungszimmers hat sich geöffnet, Zigarrenrauch hüllt mich ein, als ich eintrete, so dass ich die Anwesenden kaum erkennen kann, es sind etwa fünf oder sechs Herren. Man bietet mir einen Stuhl an dem grossen Tisch an. Ich setze mich steif und aufrecht auf die Kante und bin auf alles gefasst.

«So haben Sie unsere Vorladung also bekommen», wendet sich der Gemeindepräsident freundlich an mich.

«Ja, vor zwei Stunden habe ich sie bekommen, und wissen Sie, wie?» Ich benütze die erste Gelegenheit, um meinem Ärger Luft zu machen. Ich habe inzwischen von Frau Pellanda erfahren, auf welchem Weg die Karte zu mir gekommen ist.

«Es ist der Gipfel, dass Sie mir die Vorladung auf einer offenen Postkarte geschickt haben, noch dazu mit der Post, wo Sie doch genau wissen, was für ein unzuverlässiger Kerl der Kappeler ist.» Der Briefträger und der Gemeindepräsident und das halbe Dorf Elgg heissen Kappeler.

«Sepp, hast du die Vorladung nicht dem Weibel gegeben?» wendet sich der Präsident an den Gemeindeschreiber.

«Doch, vor einer Woche schon.»

«Er war aber zu faul und gab sie dem Briefträger», eifere ich. «Und der hat sie falsch zugestellt, in der Garage Beringer hat er sie abgegeben. Der Beringer hat sie an Frau Pellanda weitergereicht, und diese hat sie bei Herrn Herzbach eingeworfen. Ich habe ja keinen eigenen Briefkasten, ich bin Untermieterin. Auf einer offenen Postkarte! Jeder hat sie gelesen, noch bevor ich etwas davon wusste. Jetzt ist das ganze Dorf orientiert und hält mich für einen unterstützungsbedürftigen Halbidioten.»

«Gemach, gemach», beschwichtigt Kappeler. Und zum Gemeindeschreiber: «Der Weibel bekommt einen Rüffel, das geht natürlich nicht.»

Aber ich habe noch mehr vorzubringen: «Dass ich letzten Herbst im Amtsblatt veröffentlicht worden bin, bevor man mich persönlich benachrichtigt hat, das ist auch dicke Post, und da kann der Weibel gar nichts dafür. Nicht einmal einem die Ehre angetan und einem mitgeteilt, von jetzt an ist Herr Muster für Sie zuständig. Das ganze Dorf denkt, die ist bevormundet, die ist nicht recht im Kopf. Ich kann nämlich selbst über mich entscheiden, ich brauche überhaupt keinen Vormund.»

«Aber Sie sind doch blind», wendet Armenpfleger Meyer ein.

«Nein, ich bin nicht blind, nur sehbehindert, und übrigens können auch die Blinden arbeiten. Ich weiss schon, dass ihr die Blinden nicht gern seht in Elgg. ‹Jetzt müssen wir dann die Blinden erhalten›, hiess es, als die Bliwis eröffnet wurde, das wurde ja im halben Dorf herumgetragen. Aber Sie müssen mich nicht erhalten, keinen einzigen von uns.»

«Herr Muster hat …»

«Ich habe mit Herrn Muster gesprochen. Er hat sich erkundigt und findet, es sei nicht recht, wenn man mich bevormunde. Darum hat er mir geholfen, das Gesuch für Entlassung aus der Vormundschaft zu machen.»

«Aber Sie müssen doch …»

«Nichts muss ich! Ich will keine Bevormundung. Wenn man einen jetzt schon so behandelt, weiss man ja, woran man ist mit einer Bevormundung.»

«He, he, nicht so heftig.» Kappeler versucht mich zu beruhigen, aber ich rede mir den angestauten Ärger über alle amtlichen Demütigungen meines Lebens von der Seele.

«Ist doch wahr, so behandelt man einen nicht. Auch mit unsereinem kann man nicht machen, was man will! Ihr müsst gar nicht für mich sorgen. Ich habe sparen gelernt, ich komme mit wenig Geld aus. Ich habe mich bis heute selbst durchgebracht, und es hat niemand gefragt, wie ich es mache, ob das Geld für das Mittagessen reicht und ob am Abend noch etwas übrig ist.»

«Und wie haben Sie es gemacht?»

«Ohne Sie!»

«Bitte, Fräulein Mosimann, wir wollen anständig reden miteinander.»

«Gut. Sie melden mich von der Vormundschaft ab, dann habe ich nichts weiter zu reklamieren.»

«Also, wenn Sie es unbedingt wollen, werden wir Ihr Gesuch an den Bezirksrat weiterleiten.»

Kappeler erhebt sich, begleitet mich zur Tür und reicht mir die Hand: «Alles Gute dann und auf Wiedersehen!»

Benommen und mit glühenden Wangen stehe ich auf dem Dorfplatz. Ich könnte in die Luft springen vor Stolz über meinen Sieg. Das hast du gut gemacht, Trudi, hast dir nichts bieten lassen. Das hätte deine Mutter nicht geschafft, nie hat sie sich gewehrt, weder für sich noch für dich.

«Das Buch hat mich sehr angesprochen. Es ist sehr gut geschrieben und hat mich fast nicht mehr losgelassen. Gratulation!» Karin W.

«So aber ist eine gradlinige, meist streng chronologische Erzählung entstanden, die aber gerade wegen ihrer Schlichtheit eindringlich ist und nie rührselig wird. Der Leser ist von Anfang an gepackt, und dazu trägt auch die präzise, leicht lesbare Sprache bei, eine Sprache, welche die Mundart der gesprochenen Vorlage mitklingen lässt (‹jegerstroscht›).» Tages-Anzeiger

Captcha

Ihre Meinung ist uns wichtig. Bitte nehmen Sie sich einige Minuten Zeit und teilen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Buch mit. Alle Rückmeldungen werden auch an den Autoren oder die Autorin weitergeleitet. Herzlichen Dank.