Silentium!
Thomas Ehrsam

Silentium!

Lesen und literarisches Leben in Zürich: Museumsgesellschaft und Literaturhaus

Mit Texten von Richard Reich, Beatrice Stoll / Mit einem Vorwort von Ulrich Pfister

208 Seiten, 44 Abb., gebunden
1., Aufl., November 2009
SFr. 34.–, 38.– €
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978-3-85791-588-8

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Mitten im liberalen Aufbruch Zürichs in den 1830er-Jahren gründeten gebildete Bürger und Professoren der jungen Universität die Museumsgesellschaft Zürich mit dem Ziel, eine 'umfassende Lese-Anstalt' zu unterhalten. Eine Lesegesellschaft, wie es damals viele gab, doch die Museumsgesellschaft erwarb sich schnell einen Platz unter den bestdotierten und gastfreundlichsten Gesellschaften ihrer Art in Europa.
Thomas Ehrsam erzählt mit der Geschichte dieser Lesegesellschaft eine Geschichte des privaten Lesens des Bürgertums in der Stadt Zürich. In Friedens- wie in Kriegszeiten war sie ein Hort der liberalen Offenheit, was sich in der Anschaffungspolitik der Bibliothek ebenso spiegelt wie in der Aufnahme von Gästen und Emigranten. Joyce, Tucholsky, Lasker-Schüler und viele mehr lasen als Mitglied oder Gast in der Museumsgesellschaft. Die Tradition der Offenheit gilt auch für das vor zehn Jahren von der Museumsgesellschaft gegründete Literaturhaus, zu dem Richard Reich einen Essay beisteuert.

Thomas Ehrsam
© Limmat Verlag

Thomas Ehrsam

Thomas Ehrsam, geboren 1954, ist Germanist und Bibliotheksleiter der Museumsgesellschaft Zürich. Er hat über Gottfried Benn promoviert und ist Herausgeber der Tagebücher Thea Sternheims (mit Regula Wyss) und des Briefwechsels Gottfried Benn–Thea Sternheim sowie (zusammen mit Kurt Horlacher und Margrit Puhan) von «Der weisse Fleck. Die Entdeckung des Kongo 1875–1908».

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Richard Reich
© Alessandro Fischer

Richard Reich

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Beatrice Stoll
© Niklaus Stauss

Beatrice Stoll

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Ein Tag im «Museum»
An Stelle eines Vorworts
von Ulrich Pfister

Zürich im liberalen Aufbruch
Politik
Bibliotheken
Lesegesellschaften

«Eine umfassende Leseanstalt»
Vorläufer
Gründung
Statuten und Ziele
Klub oder Dienstleistungsbetrieb?

Das Gesellschaftshaus am Limmatquai 62
Planung und Bau
Exkurs zur Technik: Licht und Luft
Umbauten

Vom Monopol zur Alternative:
Die Museumsgesellschaft im Wandel
Das goldene Zeitalter
Ein Neubau?
Bewegung in der Bibliothekswelt Zürichs: Konkurrenz
Krisen und Erneuerung
Finanzen
Personal

Mitglieder

Gäste

Berühmte Mitglieder und Gäste
Neunzehntes Jahrhundert
Jahrhundertwende
Erster Weltkrieg
1919–1933
Von der Machtergreifung Hitlers bis zum Kriegsende
Nachkriegszeit

Der Lesesaal

Die Bibliothek
«Erscheinungen der neusten Literatur»
Schenkungen
Raumnot oder die Frage des Ausscheidens
Erschliessung und Ausleihe

Anschaffungspolitik: Kontroversen im Desiderienbuch
Ausblick
Anmerkungen
Quellen

Vom Werden einer Ovität
Die Anfänge des Literaturhauses
von Richard Reich

Grosse Autoren, tausend Kleinigkeiten
Ein Alltag im Literaturhaus
von Beatrice Stoll

Die Präsidenten der Museumsgesellschaft
Namenregister

Lesegesellschaften

Lesegesellschaften waren nach den Leih- und den öffentlichen Bibliotheken der dritte wichtige Distributor von Lesestoff. Das gilt keineswegs nur für die Schweiz: In ganz Europa sind seit dem 18. Jahrhundert in Städten und grösseren Dörfern Lesegesellschaften gegründet worden. Es sind vor allem drei Faktoren, die für diese Entwicklung verantwortlich sind: das entstehende Intelligenzbürgertum, die Schriftlichkeit als Leitkultur und die enorme Steigerung der literarischen Produktion.

Mit der Emanzipation des Bürgertums entsteht ein Intelligenzbürgertum, das nicht mehr nur Geistliche und Gelehrte umfasst, sondern sich aus verschiedenen sozialen Milieus rekrutiert. Das Handels- und Gewerbebürgertum kann seinen Söhnen (von Töchtern ist noch nicht die Rede) eine Ausbildung ermöglichen, und die kirchliche oder landesherrliche Bildungsförderung erlaubt dasselbe auch begabten Söhnen der ländlichen Bevölkerung. Gemeinsam ist diesem Intelligenzbürgertum der soziale Aufstieg und die Emanzipation aus der ständischen Ordnung sowie der Wille, politisch mitreden zu können. Voraussetzung dazu aber ist die Information. Und diese Information wird nicht mehr mündlich, sondern schriftlich verbreitet. Dazu kommt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ungeheure Steigerung der literarischen Produktion. Zeitungen und Zeitschriften antworten auf das Bedürfnis nach aktueller Information, und die Buchproduktion beschränkt sich nicht länger auf Religiöses und Erbauliches einerseits und Gelehrtes andererseits: Die Unterhaltung und die Wissensvermittlung für ein breiteres Publikum treten in den Vordergrund. Das Volkssprachliche drängt das bisher herrschende Latein an den Rand. Das Ergebnis ist eine eigentliche, von den einen begrüsste, von den andern heftig bekämpfte Leserevolution. Die «Romansucht» wird zum Schlagwort der konservativen Gegner, und auch die Lektüre bildender Schriften sehen sie als Gefahr – nicht zu Unrecht, denn es wird nicht nur mehr gelesen, es wird auch anders gelesen. An die Stelle der wiederholten aneignenden Lektüre kanonischer Texte tritt das Lesen wechselnder, tendenziell möglichst vieler Schriften zur Unterhaltung, zur Information und Bildung. Die etablierten Bibliotheken können auf die Massenproduktion und die veränderten Lesegewohnheiten oft nicht adäquat reagieren. Sie sind durch ihre Ausrichtung auf gelehrte Literatur wohl auch wenig interessiert an wissensvermittelnden Schriften für ein grösseres Publikum, und noch weniger an der neuen Romanliteratur.

Lesegesellschaften sind nicht nur die Antwort auf das neue Bedürfnis nach Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, sie haben sehr oft auch eine gesellschaftliche oder gesellige Funktion und dienen der Verständigung des Intelligenzbürgertums. Oft verfügen sie neben einem Lesekabinett über ein Debattier-, ein Spiel- und ein Rauchzimmer. Von Anfang an sind sie nicht ständisch gefasst, sondern – und das ist ein Novum – offen für alle Interessierten, welchen Ständen und Berufsständen auch immer sie angehören (Frauen allerdings bleiben meist noch lange ausgeschlossen). Ihre Form ist deshalb der Verein, der in den Lesegesellschaften erstmals eine massenhafte Verbreitung findet. Was ihr Angebot angeht, so beginnen die meisten mit dem Zirkulierenlassen von Zeitungen und Zeitschriften, richten dann ein Lesekabinett ein, um die Periodica auflegen zu können, und kommen dann erst zum Entschluss, eine Bibliothek aufzubauen.

Bis zur Französischen Revolution bleiben Lesegesellschaften in der Regel von den Regierungen unbehelligt, nachher werden sie von diesen beargwöhnt und haben ihrerseits ein gespanntes Verhältnis zu den Regierungen und werden hin und wieder zu einem sogenannten Jakobinerklub. «Eine potenzielle politische Gefährlichkeit von Lesegesellschaften spielte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch bei allen europäischen Regierungen eine Rolle», meint der Historiker Otto Dann. Das trifft nun für die Schweiz der Dreissigerjahre, jedenfalls für den Kanton Zürich, gerade nicht zu. Nur eine einzige der im 18. Jahrhundert im Kanton gegründeten Lesegesellschaften hat den Zusammenbruch des Ancien Régime überlebt, die von Wädenswil. Die nach 1800 neu oder wieder entstandenen Gesellschaften sind zwar alle von der Oberschicht gegründet worden, aber einige vertraten gegenüber der Regierung in der Stadt durchaus politisch oppositionelle Positionen und hatten an Zeitungen zum Beispiel ausschliesslich die liberalen Blätter abonniert. Nicht selten standen die wöchentlichen Versammlungen und damit die Politik im Zentrum ihrer Tätigkeit, denn an diesen Versammlungen ging es vor allem um die Verbreitung liberalen Gedankenguts. Die Gesellschaften der Seegemeinden, insbesondere Stäfas, waren sogar wesentlich am Zustandekommen des Ustertages beteiligt. Aber nach dem Sieg der Liberalen war ihre politische Mission erfüllt und die Opposition damit beendet; im Fall Stäfa führte das sogar zu einem fast vollständigen jahrelangen Stillstand des Vereinslebens. Andere konzentrierten sich danach vornehmlich auf die Bereitstellung von Lesestoff und liessen den gesellschaftlichen Teil ihrer Tätigkeit weitgehend oder ganz fallen.
Neue Zürcher Zeitung, 12. November 2009
Tages-Anzeiger, 19. November 2009
Schweizer Monatshefte, Jan./Feb. 2010
Schweizer Buchhandel, 1. Januar 2010

«Interessant und unterhaltsam sind Thomas Ehrsams Ausführungen über die Mitglieder und Gäste der Museumsgesellschaft, ihre Altersstruktur, beruflichen Tätigkeiten und ihre Herkunft.» Schweizer Monatshefte

«Geboren aus dem Geist des Liberalismus, versorgt die Museumsgesellschaft Zürich ihre Mitglieder seit nunmehr 175 Jahren mit Neuerscheinungen aus dem Bereich der ‹schöngeistigen Literatur›. Mit ihrer kontinuierlich gewachsenen Bibliothek, in der sich seltene Erstausgaben befinden, ist die seit 1886 am Limmatquai untergebrachte Gesellschaft ein wahres Paradies für Leser. Nun hat Bibliotheksleiter Thomas Ehrsam Protokolle, Jahresberichte und Mitgliederlisten durchkämmt und eine reich illustrierte Geschichte dieser ehrwürdigen Gesellschaft geschrieben.» Tages-Anzeiger

«Die Geschichte der Museumsgesellschaft Zürich (MUG) ist auch ein Stück Literaturgeschichte. Jetzt ist ein Buch darüber erschienen – ein sehr lesenswertes. Er liest sich gut, der von MUG-Bibliotheksleiter Thomas Ehrsam verfasste Streifzug durch die Historie dieser Zürcher Institution – die bei der Gründung des Zürcher Literaturhauses von 1999 noch lange nicht endet.» Schweizer Buchhandel
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