Global Town Baden
Heinz Nigg

Global Town Baden

30 Porträts aus einer urbanen Region

Mit Texten von Gianni D'Amato, Christian Schmid, Barbara Welter / Mit Fotografien von Stephan Rossi / Herausgeber Historisches Museum Baden

200 Seiten, 30 Abb., gebunden, 30 Fotos vierfarbig
September 2010
SFr. 29.50, 32.– €
sofort lieferbar
978-3-85791-617-5

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Baden ist eine typische Schweizer Kleinstadt – oder eben doch nicht? Dreissig Porträts in Text und Bild von Menschen zwischen 15 und 87 Jahren lassen eine Region entdecken mit spannenden Bezügen zur Welt – dank der Kurbetriebe und des Industriekonzerns bbc, heute abb und Alstom, aber auch dank der vielen Zugezogenen. Denn sie kommen aus Südindien, Kalabrien, Naters oder Wettingen, sie sind Architekt, Hausfrau, Krankenschwester oder Möbelschreiner, sie sind erst wenige Monate in Baden oder aber da aufgewachsen. So verschieden ihr Hintergrund ist, etwas verbindet sie: Sie leben gerne hier.
In ausführlichen Gesprächen zeichnen Christian Schmid, Dozent eth Zürich, und Gianni D’Amato, Leiter Schweizerisches Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien Universität Neuenburg, die Probleme urbaner Entwicklung nach. Barbara Welter, Kuratorin am Historischen Museum Baden, fragt nach der Bedeutung der Integration verschiedener Wertsysteme und Glaubensvorstellungen.

Heinz Nigg
© Limmat Verlag

Heinz Nigg

Heinz Nigg, geboren 1949 in Zürich. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Ethnologie. Beschäftigung mit bildender Kunst als Maler und Kritiker. Bildungsaufenthalte in Chicago und London. Gehört zu den Pionieren der alternativen Videobewegung der 70er- und 80er-Jahre (Community Media). Arbeitet heute als freier Kulturschaffender und unterrichtet Medienanthropologie an der Universität Bern.

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Vorwort

Ein Gewinn für alle
Von Simone Prodolliet

Porträts

Stephan Attiger
Eine Stadt mit Charme und Charakter
Stadtammann von Baden
 

Kerim Aysen
Hemmungen können überwunden werden
Maschinenbauingenieur und Sozialbetreuer

Karin Bächli
Eine Region mit Gewicht
Geografin und Verkehrsplenerin. Einwohnerrätin

Yahya Hassan Bajwa
Ich war für interkulturelle Kommunikation und den interreligiösen Dialog prädestiniert
Büro für Kommunikation. Einwohnerrat

Andreas Bauer
Wir haben alles selber gemacht
Autolackierer. Einwohnerrat

Fitim Beljuli
Einfach zeigen, wer wir sind
Schüler

Josef Bollag
Ein Scheunentor aufstossen
Wirtschaftsjurist

Josef Bürge
Integration hat damit zu tun, dass man allen Bevölkerungsgruppen Wertschätzung entgegenbringt
Ehemaliger Stadtammann von Baden

Béatrice Buomberger
Ich bin jemand, die schnell Anschluss sucht und findet
Kosmetikerin und Hausfrau

Katleen De Beukeleer
Wir wollten einmal etwas anderes sehen
Leiterin des Familienzentrums «Karussell»

Yasemin Duran
Das Paradies selbst vorbereiten
Religionslehrerin

Nina Fink
Meine ersten Kontakte kamen über die Kinder zustande
IT-Ingenieurin

Clemens Frei
Wir gingen in die Welt hinaus und brachten andere Kulturen in unser Dorf zurück
Techniker Maschinenbau

Attila Herendi
Wenn es mir sehr gut geht, fühle ich mich als Badener
Architekt und Kunstschaffender

Anne Marie Höchli-Zen Ruffinen
Der Einsatz für die Menschenrechte ist mir ein Leben lang geblieben
Lehrerin und ehemalige Präsidentin des Schweizerischen Katholischen Frauenbundes

Max Lässer
Baden wurde auch Ausgangspunkt für meine Ausflüge in die Weltmusik
Musiker

Simon Libsig
Eiine florierende Spaziermeile der Limmat entlang
Autor und Poet

Vijaya Mahendran
Hier kann ich sagen, was ich will
Krankenschwester und Kulturvermittlerin

Elia Marinucci
Ich habe Anregungen aus zwei Ländern
Gestalter und Künstler

Pino Oliverio
Meine Kindheit habe ich bei Verwandten verbracht
Modedesigner

Jürg Peter
Es reizte mich, diesen wilden Haufen zu übernehmen
Lehrer
Vijaya Rao
Da werden alle Türen für mich aufgehen
Indische Tanzkünstlerin, Sängerin, Tanz- und Musikpädagogin

Sandra Ražić
Menschen, die mich nehmen, wie ich bin
Soziokulturelle Animatorin

Dilara Sahin
Auf meinen eigenen Füssen stehen
Schülerin

Sepp Schmid
Der Herrgott hat die Welt in Baden erschaffen
Bau- und Möbelschreiner

Esther Terrier-Sebes
Es kamen Kurgäste aus aller Herren Länder
Kranken- und Operationsschwester

Srdjan Vuković
Ich habe gesehen, was Krieg anstellen kann
Mittelschüler

Kuo-Hsiang Yong
Jede Firma braucht neue Impulse von aussen
Project Manager

Paul Zellweger
Wir mussten uns anpassen, sonst wäre es nicht gut herausgekommen
Maschineningenieur

Martin Zulauf
Den Spielraum nutzen
Sicherheitschef von Baden

Interviews

Barbara Welter
Das Museum als Ort der Begegnung

Christian Schmid
Von einer Kleinstadt zum Subzentrum einer Metropolitanregion

Gianni D’Amato
Über die Bürgerrechte der eingewanderten Bevölkerung in der Schweiz

Nachwort: Ein Beitrag zur Anthropologie des urbanen Menschen
Von Heinz Nigg

Ein Gewinn für alle

Sich aufgehoben fühlen, gehört wohl zu den entscheidenden Voraussetzungen, um ein zufriedenes Leben zu führen und sich für das Gemeinwesen einzusetzen. Die Porträts in diesem Buch zeigen Menschen, die in ihrer Region zu Hause sind. Es sind Junge und Alte, Frauen und Männer, Einheimische und Zugewanderte, Berufstätige und Pensionierte, Akademikerinnen und Handwerker, Engagierte in Kultur, Politik und Gesellschaft. Trotz aller Unterschiede ist ihnen etwas gemeinsam: Sie wohnen und arbeiten in derselben Region – sie sind Teil von «Global Town Baden».

Wer sich in die Porträts vertieft, lernt Menschen kennen, die gerne dort sind, wo sie leben. Der Bezug zu Baden, ob seit jeher, seit einigen Jahrzehnten oder erst seit Kurzem, ist für alle porträtierten Personen von grosser Bedeutung. Sie erzählen davon, wie wichtig es für sie ist, dazuzugehören, ein Teil dieser Stadt und ihrer Umgebung zu sein. Und sie setzen sich dafür ein, dass das gesellschaftliche Leben atmet, dass durch Innovationen und Kreativität das Gemeinwesen attraktiv bleibt.

Als die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen ekm dazu aufrief, Projekte unter dem Themendach «Citoyenneté» einzureichen, hatte sie unter anderem auch Projekte im Auge, bei denen es um Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen geht. «Citoyenneté», das als Begriff in der deutschen Sprache keine Entsprechung kennt und annähernd mit «aktiver Bürgerschaft» übersetzt werden kann, bezieht sich auf den Akt, sich als Bürgerin oder Bürger – auch ohne politische Rechte – am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, dieses mitzugestalten, sich in öffentliche Angelegenheiten einzubringen. Die ekm unterstützt dabei Projekte modellhaften Charakters, welche die Teilnahme und Teilhabe aller Personen, unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit, fördern. Obwohl vielerorts in der Schweiz Menschen ohne Schweizer Pass keinen direkten Zugang zu politischer Partizipation im engeren Sinn haben, gibt es Möglichkeiten und Wege, sich an der Entwicklung eines Gemeinwesens zu beteiligen und einen entsprechenden Beitrag zu leisten.

Das Projekt «Global Town Baden», zu dem das vorliegende Buch gehört, ist dem Ansatz von «Citoyenneté» verpflichtet. Neben Buch und Ausstellung dienen verschiedene Veranstaltungen und Foren dazu, die konkrete Auseinandersetzung mit Themen, welche die Menschen in Baden und Umgebung beschäftigen, zu ermöglichen. Dabei sollen sich Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Meinungen begegnen. Buch, Ausstellung und Veranstaltungen sind eine Plattform für die öffentliche Diskussion.

«Global Town Baden» hat das Potenzial, die Idee von «Citoyenneté» in Baden und über Baden hinaus Fuss fassen zu lassen. Die Ausgangslage dazu könnte besser nicht sein. Das zeigen die Porträts der Menschen, die sich der Region Baden zugehörig fühlen. Teilhabe und Teilnahme am öffentlichen Leben sind, wie in diesem Buch nachzulesen ist, «ein Gewinn für alle». Lebendige Städte und Gemeinden sind auf «citoyens» und «citoyennes» angewiesen, denen es nicht egal ist, was an ihrem Ort läuft, die sich einsetzen und einen Beitrag leisten wollen für ihre Stadt, für ihre Gemeinde. «Was zählt, ist das Interesse», meint in diesem Sinne eine der Porträtierten. Damit jedoch das Interesse erhalten bleibt, nicht nur in Baden, braucht es noch viele weitere Orte der Einmischung, Orte der Partizipation.

Simone Prodolliet | Geschäftsführerin
Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen

Ein Beitrag zur Anthropologie des urbanen Menschen

«Our Town» ist der Titel eines Theaterstücks von Thornton Wilder über den Alltag in einer amerikanischen Kleinstadt vor hundert Jahren. Das Stück handelt von der Schwierigkeit, das Leben zu verstehen in einer Zeit, als sich die amerikanische Gesellschaft durch die Industrialisierung schnell veränderte. Der erste Akt ist überschrieben mit «Das tägliche Leben». Eine Romanze zwischen den Nachbarskindern Emily und George bahnt sich an und eine Vielzahl anderer Charaktere werden eingeführt: Eltern, Geschwister und Personen des öffentlichen Lebens wie Pfarrer und Polizist. Zweiter Akt: Drei Jahre sind vergangen und die beiden Nachbarskinder Emily und George stehen kurz vor der Heirat. Der dritte und letzte Akt spielt im Jahr 1913 auf dem Friedhof der fiktiven Kleinstadt. Emily ist bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben und landet im Reich der Toten. Sie erhält die Möglichkeit, an einem beliebigen Tag in ihr Leben zurückzugehen und ihn – aus Distanz – mitzuerleben. Sie reist zu ihrem zwölften Geburtstag. Sie erkennt, wie unwichtig die meisten Dinge sind, mit denen sich die Lebenden befassen. In einer letzten Szene versucht Emily ihre Mutter aus der Routine des Alltags herauszureissen – vergebens. Emily kehrt ins Totenreich zurück. Ein Spielleiter führt das Publikum durch das Theaterstück. Sein Fazit: Das Leben ist höchst banal, aber wunderbar. Man muss das Leben lieben, um es zu leben, und man muss das Leben leben, um es zu lieben.

Als Barbara Welter und ich vor fast drei Jahren unsere Arbeit an der Ausstellung und am Buch «Global Town Baden – 30 Porträts aus einer urbanen Region» begannen, muss wohl Thornton Wilder unserer Idee Pate gestanden haben. Wir wollten Zugewanderte erzählen lassen, woher sie kommen, wie sie sich in Baden eingelebt haben und wie ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben aussieht. Wir wollten auch Menschen zu Wort kommen lassen, die in Baden und Umgebung – oder irgendwo in der Schweiz – aufgewachsen sind und ihren Lebensmittelpunkt in Baden und Umgebung gefunden haben. Die Trennung zwischen in- und ausländischer Bevölkerung sollte durch einen Akt gemeinsamen Erzählens und Zuhörens überwunden werden. Und wie in «Our Town» von Thornton Wilder steht auch in unserem Projekt der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Er denkt über sein Leben nach, redet über die Bedeutung seiner Herkunft, über Wanderungen, Hoffnungen und sein Verhältnis zur Umgebung, wo er wohnt und arbeitet.

Vor hundert Jahren waren die Einwohnerinnen und Einwohner von Thornton Wilders amerikanischer Kleinstadt hauptsächlich Einheimische, und das heisst: weisse angelsächsische Protestantinnen und Protestanten. Die einzige Minderheit im Ort waren die neuzugezogenen katholischen polnischen Immigrantinnen und Immigranten. Die kulturellen Identitäten der zugewanderten Menschen, die in den Porträts von «Gobal Town Baden» zu Wort kommen, sind hingegen äusserst vielfältig: Sie kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus der Türkei, Italien, Deutschland, Belgien, Ungarn, Indien, Pakistan, Singapur, Sri Lanka und Kanada. Auch die Einheimischen haben Wurzeln an anderen Orten: in Finnland, Deutschland, im Wallis, in St.?Gallen oder in einem anderen Kanton oder einer anderen Region der Schweiz. Mit einem feinen Netz von verwandtschaftlichen und beruflichen Fäden spannt sich Baden in die Welt hinaus – und die Welt nach Baden hinein – und verwandelt die traditionelle Kleinstadt mit ländlicher Umgebung in eine Global Town. Auch die Formen der Zuwanderung in der Region Baden sind komplex: von der klassischen Arbeits- und Fluchtimmigration über Einwanderung durch Heirat bis hin zu den heutigen Zuwanderungen von qualifizierten Fachkräften aus Europa und Übersee.

Die Welt hat sich seit «Our Town» von Thornton Wilder gewaltig verändert. Sie ist geschrumpft, die Dörfer verschwinden. An ihre Stelle treten kleine und grössere Towns, die sich zu urbanen Gebilden verdichten, die wir Agglomerationen oder Zwischenstädte nennen, um sie von den grossen Citys und Metropolen zu unterscheiden. Und trotzdem gehen die Menschen ihren Alltagsgeschäften nach wie früher. Sie wachsen in einer Nachbarschaft auf, ziehen ein- oder mehrmals um, arbeiten, suchen ihr Glück, werden alt, sterben. Die Geschichten aus dem Leben der dreissig Erzählerinnen und Erzähler in diesem Buch sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie uns ein menschliches Mass in die Hand geben, wenn wir die Zukunft unserer Siedlungsräume und unseres Zusammenlebens überdenken und planen. Das Schicksal jedes einzelnen Menschen hält uns dazu an, die grossen Fragen der Zeit – Migration, Bürgerrechte, Wertewandel, Stadt- und Regionalentwicklung – von der wissenschaftlichen und politischen auf die lebenspraktische Ebene herunterzuholen. Nur im Alltag lassen sich konkrete Lösungen für soziale Spannungen und kulturelle Missverständnisse finden.

Buch, Ausstellung und das öffentlich zugängliche Online-Archiv der Videoporträts sind demzufolge zu verstehen als ein Beitrag zur Anthropologie des urbanen Menschen des 21. Jahrhunderts – am Beispiel von Stadt und Region Baden. Die Lebensgeschichten und Fotoporträts widerspiegeln den Alltag und den sozialen Wandel einer urbanen Region von 130?000 Menschen mitten in Europa – einer Region, die sich von einem klassischen Industriestandort des 19. und 20. Jahrhunderts in eine urbane und global vernetzte Region des 21. Jahrhunderts transformiert hat. Während Thornton Wilder das Theater wählte, um die Condition humaine des Stadtmenschen des Industriezeitalters zum Ausdruck zu bringen, bedienten wir uns der Methoden der ethnografischen Forschung sowie der Medien Video und Fotografie, um die Lebensbedingungen und Lebensweisen des urbanen Menschen von heute darzustellen. Das bewegte Bild gibt Mimik und Gestik der Erzählerinnen und Erzähler wieder, der Text verdichtet deren Rede zu Geschichten, und die Fotografie erfasst ihre individuelle Erscheinung.

Meine Wertschätzung gilt allen, die mir ein Interview gegeben haben. Ein grosser Dank geht an jene, die Ausstellung, Buch und Online-Archiv ermöglicht haben, sowie an das Integrationsforum Baden, das am Rahmenprogramm für die Ausstellung mitgewirkt hat.

Heinz Nigg | Sommer 2010

 

 

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